Zwischen Wald und Welt – über das Sprechen der Natur in Leoš Janáčeks ‚Die schlaue Füchsin‘ in der Inszenierung von Stephan Kimmig an der Staatsoper Stuttgart
Das Duo Ylvis landete mit dem Song ‘What Does The Fox Say?’ einen unerwarteten Welthit, der 2013 zu den meistgesehenen Videos auf YouTube zählte und mit dieser unbeantwortbaren Frage zu einem popkulturellen Phänomen wurde. Die Staatsoper Stuttgart liefert nun mit Leoš Janáčeks Oper Die schlaue Füchsin eine mögliche Antwort. Das mag verspätet wirken, ist aber im Angesicht von Klimakrise und Artensterben von erstaunlicher Aktualität, denn hier wird der Natur eine Stimme gegeben. Fast auf den Tag genau nimmt damit die Staatsoper das Stück von Janáček 101 Jahre nach der Uraufführung (06.11.1924) in Brünn zum allerersten Mal in ihren Spielplan auf. Ein subtiles, auf andere Weise queeres Werk zeigt verspielt, hingebungsvoll und kritisch die Verflechtung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ auf.
Der ursprüngliche deutsche Titel Das schlaue Füchslein wird in der Staatsoper selbstbewusst ohne Diminutiv geführt, denn in der Tat handelt es sich bei der Hauptfigur um eine selbstbewusste, starke und intelligente Füchsin. Wer bei dem Titel an ein Kindermärchen denkt, täuscht sich. Zwar entführen die Musik von Leoš Janáček und die Inszenierung von Stephan Kimmig in eine traumhafte, märchenartige Welt, doch die Erzählung sprengt jede Gattung. Kurz umrissen geht es in der Oper darum, dass ein Förster im Wald eine junge Füchsin entdeckt und sie mit nach Hause nimmt. Dort leidet sie unter der Gefangenschaft, dem Spott der Menschen und den engen Grenzen häuslicher Ordnung. Sie träumt von Freiheit, lehnt sich gegen die Unterdrückung auf, ruft gar die Hühner zur Rebellion auf und flieht schließlich zurück in den Wald – dorthin, wo sie sich und ihre Freiheit wiederfindet. In ihrer neugewonnenen Selbstbestimmung begegnet sie einem Fuchs, mit dem sie Liebe und Einklang erlebt, während die menschliche Welt daneben in Melancholie und Stillstand verharrt: Förster, Lehrer und Pfarrer klammern sich an Erinnerungen und unerfüllte Sehnsüchte. Doch das Glück der Füchsin ist von kurzer Dauer: Ein Wilderer erschießt sie, als sie sich ihm trotzig entgegenstellt. Am Ende erkennt der Förster, dass ihr Tod kein Ende bedeutet, sondern Teil eines größeren Kreislaufs ist: Natur und Leben erneuern sich und alles hängt miteinander zusammen.
Auffallend ist, dass die Oper trotz ihrer Kürze (ca. 1h 45min) verblüffend viel kohärente Handlung unterbringt, welche teils durch den Text, teils durch die stimmenreiche Musik und teils durch das hervorragende Kammerspiel der Sänger:innen vorangetrieben wird. Hervorzuheben ist dabei unbedingt Claudia Muschio, die in der Titelrolle der Füchsin nicht nur stimmlich ihrem Charakter in unterschiedlichsten Nuancen Tiefe verleiht, sondern gerade im Schauspiel der Füchsin grandios selbstbewusste Züge gibt, lasziv dabei das Publikum herausfordert und vor allem in einer herrlichen Szene mit ihrer kongenialen Spielpartnerin Ida Ränzlöv, welche den Fuchs verkörpert, Flirt und Verlieben zum Besten gibt. So ist das binäre Spiel der Geschlechter von Füchsin und Fuchs aufgebrochen durch zwei weibliche Gesangsstimmen. Ida Ränzlöv mimt den machohaften Fuchs, welcher um die schlaue Füchsin wirbt. Die Travestie wird unterstützt vom Brusthaartoupet. Nicht Mimikry ist das Ziel der verspielten, farbenprächtigen und vielseitigen Kostüme von Anja Rabes, sondern eine Mischung aus High Fashion, Sportswear (selten waren mehr Adidas-Schuhe auf einer Bühne zu sehen), opulenten Schnitten und farbenprächtigen Stoffen unterstreichen die Charaktermerkmale der Tiere. So tritt die Füchsin selbstbewusst in einem orangebraun glitzernden Anzug auf und die solidarisierungsunwilligen Hühner tragen ein eitles Federkleid, das an die Jacquemus Spring 2023 Kollektion erinnert. Durch Kostüm und Spiel entsteht in der Inszenierung von Stephan Kimmig ein wechselseitiges ›Imitationsspiel‹ von Menschen und Natur, sodass man sich fragt, wer imitiert eigentlich wen? Sind die Tiere anthropomorphisiert oder ist der Mensch nicht doch viel animalischer, als er sich zu geben pflegt? So ist die Handlung in einem Raum (Bühnenbild von Katja Haß) angelegt, der sowohl Fuchsbau als auch menschlicher Bungalow sein könnte, der elegant im Freien, in der ‚Natur‘ steht. Doch hier betritt gelegentlich das Tier die Bühne durch die Tür und der Mensch verlässt sie durch den Dachs-Tunnel. Alles wird in dieser Oper zur Pantomime und gleichzeitig zur Inversion dieser; selbst die Musik, die als vom Menschen geformter Klang die Stimmen der Natur in sich aufnimmt. Beethoven soll selbst über seine eigene sechste Sinfonie gesagt haben: „Hier habe ich die Szene am Bach geschrieben, und die Goldammern, Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum haben mitkomponiert.“ Ein Satz, der ebenso gut von Janáček stammen könnte. Auch bei ihm wird die Natur zur Mitkomponistin: Tierstimmen durchziehen die Partitur, und selbst wer kein:e Ornitholog:in ist, wird am Ende einen Specht im Orchester zu hören glauben. Ariane Matiakh leitet das Staatsorchester durch den Abend und stimmt den Gesang mit dem Orchester wunderbar ab, schafft immer wieder spätromantisch-pathetische Bögen, ohne dass diese ins Kitschige abgleiten, und hat eine Freude an der impressionistisch anmutenden Vielstimmigkeit der Partitur, die sie transparent herausarbeitet.
Vielleicht erfährt man nicht konkret, „What Does The Fox Say?“, doch Janáčeks Füchsin antwortet in einer Sprache, die zwischen ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ oszilliert. Ihre Stimme, halb Gesang, halb Reflex der Welt, führt in jene Zwischenzone, in der Kunst und Leben, Tier und Mensch einander ununterscheidbar werden. Adornos Begriff der Mimesis liefert hierfür einen produktiven Schlüssel oder, wenn man so will, ein Echo, das Janáčeks musikalischer Welterfahrung erstaunlich nahesteht. Adorno hält Mimesis für einen zentralen Wesenszug der Kunst, Kunst als Nachahmung der Natur, die jedoch weit über bloßes Abbilden hinausgeht. „Kunst ist zwar Nachahmung, aber nicht Nachahmung eines Objektes“, schreibt er, sondern ein Versuch, „einen Zustand wiederherzustellen, in dem es eigentlich eine Differenz von Subjekt und Objekt nicht gegeben hat“.1 In dieser Geste verhilft die Kunst, so Adorno, „der Natur zu dem Ihren“2: Sie gibt der Natur eine Stimme, wo die Aufklärung sie zum Schweigen gebracht hat. Doch bleibt die Kunst in diesem Prozess nicht unschuldig. Denn „die unverstümmelte Natur kann man nicht zum Sprechen bringen“3 – jede Kunst ist bereits durch Technik und Material vermittelt und damit Teil jener Naturbeherrschung (Musik als vom Menschen geformter ‚Natur‘-Klang), gegen die sie sich zugleich wendet. Hier liegt für Adorno die eigentliche Dialektik: Die Kunst beherrscht zwar weiterhin die Natur, da sie sich ihrer bedient, aber die Heteronomie, also die Natur als das Andere zum Menschen, wird in der Kunst aufgelöst. In dieser Spannung, „durch fortschreitende Beherrschung der Natur dieser zugleich zu ihrer Freiheit zu verhelfen“,4 definiert sich für Adorno der Sinn des Kunstwerks. Das Kunstwerk als Ort, an dem Natur und Mensch, Fremdheit und Nähe, Unterwerfung und Freiheit miteinander verschränkt bleiben. Diese Spannung bleibt auch in Kimmigs Inszenierung spürbar – eine Oper, die selbst das Dialektische spielt: zwischen Freiheit und Form, Tier und Mensch, Kunst und Natur. Diese Verschränkung zeigt sich bis zuletzt in Janáčeks Oper Die schlaue Füchsin, wenn der Förster – meisterhaft gespielt und gesungen von Paweł Konik – im traumhaften Zustand das zyklische Werden der Natur erkennt, es im hinreißend lyrischen Ton besingt und dabei mit ihr fast – aber eben nur fast – zu verschmelzen scheint. Kimmig gelingt mit seiner Inszenierung ein poetisches Bild im Sinne von Adornos Dialektik, in der Natur und Mensch, Kunst und Welt in Spannung zueinander stehen und doch unauflöslich miteinander verbunden bleiben. So steht am Ende nicht nur die neue Fuchs-Generation, sondern auch das Bewusstsein, dass Kunst – wie die ‚Natur‘ selbst – stets aus jener Bewegung zwischen Beherrschung und Hingabe entsteht.
Am 14.11, 21.11, 23.11, 26.11 und 10.12 ist diese zauberhafte Inszenierung mit detailreichem und farbenfrohem Spiel an der Staatsoper Stuttgart noch zu sehen.
(Die Rezension ist auf Grundlage des Generalprobenbesuchs am 06.11.2025 geschrieben. Über den Preview-Club der Staatsoper Stuttgart können Menschen zwischen 16 und 30 Jahren Generalproben von Neuproduktionen kostenfrei besuchen: https://www.staatsoper-stuttgart.de/junge-oper/preview-club/)
- Theodor W. Adorno: Ästhetik (1958/59). Hrsg. von Eberhard Ortland. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2023, S. 70. ↩︎
- Ebd., S. 69. ↩︎
- Ebd. S. 125. ↩︎
- Ebd. S. 85. ↩︎