Bedrohlicher als »Black Mirror«? – Clemens J. Setz’ »Die Erfindung« am Kammertheater Stuttgart

Es fängt recht betu­lich an: C und S mum­meln sich in einer nächt­li­chen Sze­ne in die Bett­de­cken ihres Hips­ter-Schlaf­zim­mers, die Tee­tas­sen ste­hen noch auf dem Nacht­tisch. Doch dann geht wie­der das all­abend­li­che Geschrei aus der Nach­bar­woh­nung los, das die bei­den wach­hält. Aus­ge­hend von der akus­tisch wahr­nehm­ba­ren Gewalt ver­trei­ben sie sich die Zeit mit einem grenz­gän­gi­gen Gedan­ken­spiel: Was wäre, wenn sie in Anleh­nung an den Roman Wor­med, den C gera­de liest, auf einer Fake-Sei­te im Dark­net ›gewurm­te‹ Frau­en zum Ver­kauf anbö­ten, um zu schau­en, wer sich für die­se ›Ware‹ inter­es­siert? Aus der maka­bren Idee wird ›Wirk­lich­keit‹ und die bei­den befin­den sich unver­se­hens in einem Stru­del von Fakt und Fik­ti­on, der zuneh­mend auch ihre Bezie­hung gefähr­det.

Zwi­schen Fakt und (Auto-)Fiktion

Cle­mens J. Setz’ am 3.5.2025 im Kam­mer­thea­ter Stutt­gart urauf­ge­führ­tes Stück ist die drit­te Auf­trags­ar­beit für das Schau­spiel Stutt­gart. Obwohl der Autor bei der Pre­mie­re nicht phy­sisch anwe­send war, mach­te schon ein Blick in das Pro­gramm­heft klar, dass die­ses Stück (schein­bar) viel mit ihm zu tun hat. Die von der Mas­ke erzeug­te Ähn­lich­keit zwi­schen C (Mar­co Mas­sa­f­ra) und Cle­mens J. Setz ist eines von vie­len Tei­len in einem auto­fik­tio­na­len Puz­zle: C.s Freun­din, her­vor­ra­gend gespielt von Katha­ri­na Hauter, heißt S, womög­lich eine Abkür­zung für Setz’ Ehe­frau Sarah. Offen­bar um S aus der Reser­ve zu locken, erfin­det C im Ver­lauf des Stücks ein neu­es Ende des omi­nö­sen Romans aus der Feder eines öster­rei­chi­schen (!) Autors. In die­sem Ende muss der Erzäh­ler des Romans, nun­mehr selbst ›gewurmt‹, als Schmink­pup­pe für eine 8‑Jährige her­hal­ten, die wie S heißt: »Naja, häu­fi­ger Name. Gra­de in Roma­nen«. Wenn man weiß, dass Cle­mens J. Setz vor ein paar Jah­ren Scott Mccla­na­hans Roman Sarah über­setzt hat, ergibt sich dar­aus der nächs­te Hin­weis für die Auto­fik­tio­na­li­tät des Stücks.

Auf den ers­ten Blick mögen die­se Ver­wei­se bloß spie­le­risch und (selbst-)ironisch anmu­ten, auf den zwei­ten Blick sind sie jedoch inter­pre­tier­bar als eine wei­te­re Dimen­si­on eines umfas­sen­de­ren The­mas, näm­lich der Grenz­ver­wi­schung zwi­schen Fakt und Fik­ti­on, zwi­schen Lüge und Wahr­heit: Basie­rend auf dem fik­ti­ven Roman Wor­med erstellt Man­fred, ein von Micha­el Stil­ler mit viel Typen­ko­mik gespiel­ter Com­pu­ter­nerd, für C und S einen Web­shop im Dark­net. Wer sich dafür inter­es­siert, eine Frau ohne Glied­ma­ßen zu bestel­len, muss ein For­mu­lar in Form eines ›Moti­va­ti­ons­schrei­bens‹ aus­fül­len und zugleich sei­ne ›rea­le‹ Adres­se ange­ben. C und S sind sich sicher: Die Bil­der auf der Sei­te sind so offen­sicht­lich mit Pho­to­shop bear­bei­tet und das ›Wur­men‹ sowie­so medi­zi­nisch unmög­lich, dass das bestimmt nie­mand ernst neh­men wird…

Grenz­wer­ti­ger Scherz wird miso­gy­ne Rea­li­tät

Was als grenz­wer­ter Scherz beginnt, wird unver­se­hens beängs­ti­gen­de Wirk­lich­keit: Der Bestell­but­ton glüht, per­ma­nent schei­nen sich Besucher:innen der Sei­te für die maka­bre Ware zu inter­es­sie­ren. Man­fred hat zwar, wie sich spä­ter her­aus­stellt, den Bestell­but­ton mani­pu­liert, es tru­deln jedoch auch immer mehr kon­kre­te Bestell­for­mu­la­re mit obsku­ren Inter­es­sens­be­kun­dun­gen ein. Die ers­te Zuschrift endet noch mit »fake lol«, die fol­gen­den schei­nen aber von ›ech­ten‹ Interessent:innen stam­men. C und S kön­nen zuneh­mend nicht mehr ent­schei­den, wel­che Zuschrif­ten gefaket und wel­che real sind. Kann es sein, dass es tat­säch­lich – und noch dazu so vie­le – miso­gy­ne Leu­te gibt, die aufs Grau­sams­te ver­stüm­mel­te Frau­en bestel­len wol­len? C und S ver­lie­ren sich in den nächs­ten Wochen immer tie­fer in der Beob­ach­tung ihres Web­shops und der Fra­ge, was sie da genau ange­rich­tet haben. Aus der anfäng­li­chen Schock­star­re über die Ver­ro­hung der Gesell­schaft ent­wi­ckelt sich eine neue Dyna­mik zwi­schen bei­den: Sie ver­däch­ti­gen sich jetzt gegen­sei­tig, Zuschrif­ten zu mani­pu­lie­ren, und das Ver­trau­en beginnt wei­ter zu brö­ckeln, wenn sie sich auch in ande­ren Hin­sich­ten anlü­gen. Der Tip­ping Point ist ein nächt­li­ches Klop­fen aus der Nach­bar­woh­nung, in der es nun­mehr ver­däch­tig still ist. Plötz­lich sind es C und S, die sich in all­abend­li­chen Tira­den aufs Übels­te beschimp­fen und den Unmut der Nach­barn auf sich zie­hen.

Komik als ›Mau­se­fal­le‹

Wie für Kam­mer­thea­ter üblich, lebt Setz’ Stück vom Dia­log. Die phy­si­sche Hand­lung auf der Büh­ne ist rudi­men­tär und oft slap­stick­haft. Vor der hip­pen Schlaf­zim­mer­ku­lis­se mit sty­li­schem Aqua­ri­um, das das Dop­pel­bett vom Bade­zim­mer trennt und mit an einen Rie­sen­wurm erin­nern­dem Tot­holz aus­staf­fiert ist, ver­hed­dert sich C immer wie­der in sei­ner ver­kno­te­ten Jog­ging­ho­se und S in ihrem über­di­men­sio­nier­ten Woll­kleid. Situa­ti­ons­ko­mik ent­steht auch, wenn der nerdi­ge Man­fred in sei­nem LED-bestück­ten Gam­ing-Stuhl ver­sinkt und man­gels Alter­na­ti­ven Kat­zen­fut­ter knab­bert. Klar, die­se Sze­nen sol­len unter­hal­ten, haben aber auch eine ande­re Funk­ti­on: Als Zuschauer:in spürt man den von ihnen aus­ge­hen­den comic reli­ef – und ist damit ver­mut­lich unver­se­hens in eine ›Mau­se­fal­le‹ Dürrenmatt’scher Tra­di­ti­on getappt. Setz’ Stück braucht die­se komi­schen Momen­te, um sei­ne tra­gi­sche Gesell­schafts­dia­gno­se zu ver­pa­cken. Nach dem Thea­ter­abend haben es der Autor Setz und der Regis­seur Lukas Holz­hau­sen ver­mut­lich geschafft, dass sich das Thea­ter­pu­bli­kum nicht mehr nur über die Mani­pu­lier­bar­keit der ›unge­bil­de­ten‹ Mas­se echauf­fiert, son­dern auch über die eige­ne Gefähr­dung nach­denkt: Denn im KI-Zeit­al­ter kön­nen wir alle – wie C und S als unse­re Stell­ver­tre­ter – Fakt und Fik­ti­on nicht mehr ein­deu­tig von­ein­an­der tren­nen und dem Miss­brauch von Fake News immer schwe­rer Ein­halt gebie­ten.

Pos­ter aus dem Pro­gramm­heft | Foto: Caro­li­ne Frank | Pla­kat­fo­to: Björn Klein

Und auch noch eine wei­te­re Dimen­si­on des Stücks ani­miert zur Selbst­be­fra­gung: Aus­ge­hend etwa von seri­el­len Dys­to­pien wie Black Mir­ror, in denen der tech­nisch-media­le Fort­schritt stets in der größt­mög­li­chen Kata­stro­phe endet, erwar­tet man im Beson­de­ren in einer der letz­ten Sze­nen das Umkip­pen des Stücks in ein büh­nen­fik­tio­nal ›rea­les‹ Schre­ckens­sze­na­rio: Als C einen ver­schnür­ten Müll­sack in etwa der Grö­ße eines mensch­li­chen Tor­sos ins Schlaf­zim­mer schleift und von Man­fred schon län­ger nichts mehr zu sehen war, drängt sich die Ver­mu­tung auf, C, S oder bei­de zusam­men könn­ten Man­fred ›gewurmt‹ haben. Fast wünscht man es sich sogar, wenn man an den schau­rig-schö­nen Schock­ef­fekt am Ende jeder Black-Mir­ror-Fol­ge denkt. Und es macht sich viel­leicht sogar leich­te Ent­täu­schung breit, wenn der Sack dann doch nur Bücher ent­hält, die zusam­men mit den aus­ge­druck­ten Bestell­for­mu­la­ren erst weg­ge­schmis­sen wer­den sol­len, dann aber doch noch Leser:innen fin­den. In der Text­vor­la­ge ist es der älte­re Sohn aus der Nach­bar­woh­nung, der den Roman Wor­med im Müll ent­deckt, in der Stutt­gar­ter Insze­nie­rung ist es S, die plötz­lich Gefal­len an den ande­ren Roma­nen des namen­lo­sen öster­rei­chi­schen Autors fin­det. So oder so: Im Aus­gang von Stück und Insze­nie­rung liegt ein Clou, des­sen wir uns erst im Nach­gang von Lek­tü­re bzw. Vor­stel­lung bewusst­wer­den: Unser vor­schnel­les Urteil, die Büh­nen­fik­ti­on trei­be es nicht weit genug, spie­gelt nicht nur unse­re eige­ne Sen­sa­ti­ons­lust, son­dern viel­leicht auch unser Unver­mö­gen, die Bedroh­lich­keit der – jetzt tat­säch­lich – ganz rea­len Gegen­wart zu erken­nen.