Poetikvorlesungen stellen eine Besonderheit innerhalb der literarischen und akademischen Landschaft dar. Sie bieten eine einzigartige Plattform, auf der Schriftsteller:innen ihre poetologischen Ansätze und individuellen Schaffensprozesse reflektieren und einem Publikum präsentieren können. Ein eindrucksvolles Beispiel gab Daniel Kehlmann mit seiner Poetikvorlesung im Rahmen der Tübinger Poetikdozentur im November 2024. Kehlmann, ein Autor, der stets die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auslotet, nutzt dieses Format auf charakteristische Weise: als Bühne des Denkens. Seine Vorlesung war nicht nur eine poetologische Auseinandersetzung über das Schreiben, sondern auch ein vielschichtiges Spiel mit literarischen Traditionen und den Erwartungen an das Autorsubjekt. Doch was genau macht Kehlmanns Poetikvorlesung zu einem bemerkenswerten Beitrag innerhalb dieses Genres? Ist es eine bewusste Positionierung innerhalb der literarischen Tradition oder vielmehr eine spielerische Dekonstruktion ebenjener Traditionen? Indem er sich mit »Gattungen, Tonfällen und Stimmen« auseinandersetzt, denkt Kehlmann nicht nur über seinen eigenen Schreibprozess nach, sondern auch über die Bedingungen der literarischen Produktion insgesamt. Das Format der Poetikvorlesung dient ihm dabei nicht nur zur Selbstverortung, sondern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem literarischen Betrieb. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, zunächst erstmal einen genaueren Blick auf die Poetikvorlesung als literarisches Genre und ihre historische Entwicklung zu werfen.
Die Poetikvorlesung als literarisches Genre erlangte durch die Etablierung der ersten Poetikdozentur mit den Beiträgen von Ingeborg Bachmann an der Universität Frankfurt im Wintersemester 1959/60 ihre institutionelle Basis. Dieses damals neue akademische Format schuf eine Verbindung zwischen Literaturwissenschaft und der praktischen Tätigkeit des Schreibens, die es ermöglichte, literarische Werke sowohl analytisch zu betrachten als auch kreativ zu erfassen.[1] Eine solche Zielsetzung verweist auf die hybride Natur des Formats, das sich nicht auf rein wissenschaftliche oder literarische Kriterien beschränkt, sondern eine dialogische Beziehung zwischen diesen Perspektiven herstellt.[2] Diese Entwicklung markiert nicht nur einen Wendepunkt in der akademischen Landschaft, sondern betont auch die wachsende Anerkennung von Literatur als Handwerk und intellektuelle Praxis. Die Gründung der Frankfurter Poetikdozentur verdeutlicht ein zunehmendes Interesse daran, eine Plattform für den Austausch zwischen Akademiker:innen und Schriftsteller:innen zu schaffen. Die Bereitschaft, Gastdozent:innen aus der Literaturlandschaft einzuladen, repräsentiert einen innovativen Ansatz, die individuelle Arbeitsweise und literarische Reflexion in den Vordergrund zu stellen.[3]
Von einem rein akademischen Ereignis hat sich die Poetikvorlesung zu einem integrativen multimedialen Event entwickelt, das Performativität und mediale Archivierung betont. Letzteres ermöglicht es nicht nur literarische Positionen darzustellen, sondern diese auch dauerhaft zugänglich zu machen.[4] Dadurch wird die Poetikvorlesung idealerweise zu einem Dokument künstlerischer Bewusstwerdung , das sowohl für die Gegenwart als auch für die Nachwelt von Bedeutung ist. Das Genre der Poetikvorlesung hat in der zeitgenössischen Literatur an Relevanz gewonnen, da sie das Selbstverständnis von Autor:innen dokumentiert. Die Offenheit der Poetikvorlesung erlaubt es Vortragenden, ein breites Spektrum an Themen, Ansätzen und Perspektiven einzubringen.
Der Autor als Performer: Kehlmanns Auftritt im Audimax
Im vollbesetzten Audimax der Tübinger Universität erwarten Kehlmann mehrere hundert Student:innen aller Semester und Bürger:innen jeden Alters. Kehlmann tritt nicht im Anzug auf, sondern in schwarzem Sakko, schwarzem Hemd, schwarzer Hose und schwarzen Schuhen – eine klassische, zurückhaltende Wahl, die Seriosität ausstrahlt. Es ist jene unauffällige Art von Kleidung, die bei solchen Anlässen stets angemessen ist – unaufdringlich, unauffällig, so zurückhaltend, dass sie keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zieht und nachträglich in keiner Erinnerung haften bleibt. Seine Kleidung suggeriert einen akademischen Habitus, ohne dabei übertrieben formell zu wirken.
Er beginnt seinen Vortrag »Gattungen, Tonfälle und Stimmen« mit einer abgewandelten Bescheidenheitsformel:
Guten Abend, mir fällt gerade eine amüsante Ironie dieses Titels auf, den ich dem heutigen Abend gegeben habe. Man gibt ja immer Titel, muss die ja bekannt geben, lange bevor man überhaupt das aufgeschrieben hat oder notiert hat, was man sagen wird.[5]
Mit dieser Bemerkung untergräbt Kehlmann die Vorstellung einer langfristigen Vorbereitung. Indem er seine eigene Unverbindlichkeit im Umgang mit solchen Titeln, die einen wissenschaftlichen Anspruch vorgeben, enthüllt, bricht er selbstironisch die Erwartung an einen klassischen Vortrag. Gleichzeitig nimmt er durchaus die Rolle des poeta doctus ein, des gebildeten Autors, der sowohl über das eigene Schreiben als auch über die Literaturgeschichte reflektiert. Sein Publikum adressiert er direkt, indem er frühere Auftritte in Tübingen erwähnt und sogar darauf eingeht, dass einige Zuhörer:innen ihn möglicherweise schon bei seiner ersten Vorlesung dort gehört haben. Dies schafft eine persönliche Verbindung zum Publikum.
Kehlmann nutzt die Performativität seiner Vorlesung gezielt, um den Inhalt zu strukturieren und gleichzeitig ironische Brechungen einzubauen. Er kennt die Erwartungen eines gemischten Publikums und antizipiert verschiedenste Reaktionen. Zu den einleitenden Bemerkungen gehört auch die folgende: »Ich habe gerade eine Erkältung überstanden und werde deswegen wahrscheinlich aus stimmlichen Gründen viel Wasser trinken. Das ist nicht der furchtbare Durst, sondern die Stimme.« Mit der Thematisierung einer gewissen körperlichen, stimmlichen Beeinträchtigung verweist er darauf, dass die Poetikvorlesung eben nicht primär als Text, sondern zuallererst als Live-Ereignis funktionieren muss. Diese Art der performativen Selbstthematisierung findet sich oft in Poetikvorlesungen. Ein weiteres Beispiel ist sein Rückblick auf einen früheren Vortrag in Tübingen, bei dem er aufgrund einer verlorenen Stimme nur krächzend sprechen konnte: »Damals konnte ich wirklich nur krächzen, ich hatte sogar John gefragt, ob er diesen Abend alleine machen kann. Und er hat gesagt: Nein.« Diese Anekdote setzt nicht nur einen humorvollen Ton, sondern thematisiert auch die Fragilität des gesprochenen Wortes und sie erfüllt – wiederum selbstironisch – die angekündigte Thematisierung von »Stimmen« im Vortrag.
Ein humorvoller Parcours durch die Gattungslandschaft
In seinem Vortrag geht es vorrangig um verschiedene Gattungen und sein Verhältnis zu ihnen. Kehlmann ordnet sich bewusst in die literarische Tradition ein, indem er zunächst über die Ursprünge von Gattungen spricht. Seine Analyse der historischen Entwicklung des Gedichts unterstreicht dies: »Das Gedicht stammt wohl direkt vom Zauberspruch ab, von den ältesten Versuchen unserer Vorfahren, das Chaos der Welt zu bannen und zu meistern.« Diese Bezugnahme auf die Ursprünge der Poesie als magisch-rituelle Praxis zeigt sein Bewusstsein für die historischen Wurzeln literarischer Formen. Indem er solche Traditionslinien aufzeigt, positioniert er sich selbst als literarhistorisch und kulturgeschichtlich bewanderten Autor. Er stellt den Schreibprozess nicht als idealisierte kreative Erfahrung dar, sondern thematisiert die realen Herausforderungen verschiedener Gattungen. Dies wird besonders greifbar in seiner Betrachtung der Lyrik: »Ein objektives Gedicht wäre ebenso ein Unding wie ein allgemeingültiges. Ein Gedicht, das Ereignisse berichtet, wäre schon keines mehr.« Ein Gedicht könne nicht objektiv oder neutral sein, weil es immer eine persönliche Perspektive, Empfindung oder Haltung transportiere. Objektivität stehe im Widerspruch zur inneren Logik lyrischer Sprache. Ebenso sei ein »allgemeingültiges« Gedicht unmöglich, da Dichtung immer auf Einzelwahrnehmung, subjektive Wahrheit und sprachliche Verdichtung setze – nicht auf Allgemeinverbindlichkeit. Damit grenzt er das Gedicht von Erzählungen ab. Ein Gedicht, das bloß Tatsachen erzählt, verliere seinen poetischen Charakter, weil es nicht um Fakten gehe, sondern um Stimmungen, Eindrücke, Klänge, Mehrdeutigkeit – das Unfassbare im Ausdruck. Kehlmanns Überlegungen zu den Grenzen der Lyrik verweisen auf eine zentrale Problematik literarischen Schreibens: Wie kann subjektives Erleben in eine Form gefasst werden, die dennoch allgemeingültig bleibt?
Kehlmann thematisiert nicht nur die literarischen Gattungen, sondern auch die praktischen Bedingungen des Schreibens. Dies wird besonders in seiner Analyse der wirtschaftlichen Realität von Schriftsteller:innen deutlich: »Für die Abfassung eines Romans braucht es immerhin einen einzelnen Menschen und einige Monate oder Jahre. Das kostet nicht die Welt, aber es ist doch ein Luxus, den man sich leisten können muss.« Dabei zeigt sich ein klares Bewusstsein für die Abhängigkeit literarischer Produktion von finanziellen und strukturellen Bedingungen. Diese Betrachtung über die materielle Basis des Schreibens entspricht aktuellen Tendenzen in Poetikvorlesungen, in denen Autor:innen zunehmend über ihre Position im Literaturbetrieb nachdenken.
Eine zentrale These Kehlmanns ist, dass der Roman eine besondere Form der Welterfassung darstellt, die durch Vielstimmigkeit und Perspektivwechsel geprägt ist: »Der Roman ist zugleich die Form der Empathie wie auch der Ironie. In seiner klassischen Ausprägung stellt er die Verwebungen der Gesellschaft dar und relativiert so jeden absoluten Wahrheitsanspruch.« Dies zeigt eine deutliche Abgrenzung von anderen literarischen Gattungen, insbesondere dem Gedicht, das für ihn stärker mit individueller Subjektivität verbunden ist. In seiner Poetikvorlesung positioniert sich Daniel Kehlmann deutlich als Romancier und nicht als Lyriker. Der Roman erscheint ihm als jene literarische Form, die besonders geeignet ist, Welt in ihrer Komplexität zu erfassen – durch Vielstimmigkeit, Perspektivwechsel, Empathie und Ironie. Er beschreibt ihn als Genre, das gesellschaftliche Verflechtungen sichtbar macht und absolute Wahrheitsansprüche relativiert. Während seine Überlegungen zur Lyrik eher abstrakt und distanziert bleiben, spricht er über den Roman mit einer Vertrautheit, die auf eigene Praxis und ästhetische Überzeugung verweist. So wird klar: Kehlmann versteht sich in erster Linie als Erzähler – als jemand, der sich der Welt literarisch durch die Form des Romans nähert.
Kehlmann zeigt in seiner geistreichen, durch Humor aufgelockerten Vorlesung ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedingungen literarischer Produktion. Ein Beispiel für seine reflektierte Haltung zum Kulturbetrieb findet sich in seiner Analyse des Theaters als einer Kunstform, die stets auf finanzielle Unterstützung angewiesen ist: »Theater ist nicht denkbar ohne einen reichen Fürsten im Hintergrund, so ist es entstanden, und in demokratischen Umständen wird diese Rolle vom Steuerzahler übernommen.« Indem er die ökonomischen Grundlagen des Theaters thematisiert, hebt er sich von einer rein ästhetischen Betrachtung ab und verweist auf die Abhängigkeit der Kunst von gesellschaftlichen Strukturen.
Kehlmanns Vortragsweise zeigt eine gezielte Mischung aus theoretischer Analyse, ironischer Distanzierung und persönlicher Erkenntnis. Er nutzt seine Stimme und die Interaktion mit dem Publikum bewusst, um seine Argumente zu unterstreichen. Auffällig ist dies in Momenten, in denen er humorvolle Bemerkungen einstreut, etwa wenn er sich über die schwierigen Charaktere vieler Dramatiker:innen auslässt: »Es ist kein Zufall, dass wir in der Literaturgeschichte so viele Beispiele von Dramatikern haben, die, um es vorsichtig zu sagen, schwierige Leute waren.« Das darauffolgende Lachen des Publikums zeigt, dass Kehlmann hier nicht nur Wissen vermittelt, sondern seine Vorlesung als eine Art Performance inszeniert, in der er bewusst mit dem Publikum interagiert.
Sein Vortrag bleibt nicht theoretisch, sondern wird durch persönliche Erfahrungen und familiäre Anekdoten angereichert. Er gibt Einblicke in seine Erfahrung mit dem Schreiben unterschiedlicher Gattungen. Er beschreibt nicht nur die theoretischen Unterschiede zwischen Roman und Drama, sondern auch die emotionalen Auswirkungen des Schreibprozesses: »Wenn ich an einem Theaterstück schreibe und es geht gut, bin ich nervös. Ich fühle mich reizbar und angegriffen, ich denke in Konflikten.« Es zeigt sich, dass der Schreibprozess für ihn nicht nur eine intellektuelle, sondern auch eine körperlich-emotionale Erfahrung ist. Diese Passage offenbart das Spannungsverhältnis zwischen kreativer Kontrolle und der inneren Zerrissenheit, die mit dem Verfassen bestimmter Gattungen einhergeht.
Man könnte sagen, dass Kehlmann sich in seinem Parcours durch die literarische Gattungslandschaft als ein Autor präsentiert, der grundsätzlich in jeder Form zu Hause sein könnte, dabei aber durchaus persönliche Vorlieben erkennen lässt, insbesondere für den Roman, dem er die größte erzählerische Offenheit und intellektuelle Reichweite zuschreibt. In seiner Analyse der Abhängigkeit des Theaters von finanzieller Unterstützung wird deutlich, dass er sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Kenner des Kulturbetriebs positioniert: »Das Gedicht ist eine ganz und gar individuelle, der Roman eine demokratische, das Theater auch weiterhin eine tendenziell höfische Form«, resümiert er.
Kehlmann stellt keine festen poetologischen Regeln auf, sondern arbeitet mit offenen Gedankengängen und Gegenüberstellungen. Er vermeidet eine normative Poetik, indem er die verschiedenen Gattungen nicht hierarchisiert, sondern nebeneinander stellt: »Der Lyriker und der Romancier sprechen direkt. Die Stimme, die wir hören oder lesen, ist die Stimme des Autors. Sie mag verstellt sein, aber sie gehört ihm.«Mit der Aussagebetont Kehlmann, dass trotz aller stilistischen Mittel und literarischen Verfremdungen letztlich immer die individuelle Stimme des Autors hörbar bleibt. Kehlmann versteht das literarische Sprechen als Ausdruck eines künstlerischen Subjekts – vielgestaltig, aber nie unpersönlich.
Erzählen zwischen Literatur und Film: Kehlmanns Gattungsreflexion
Seine eigene Entwicklung als Autor begründet Kehlmann durchaus biografisch. Als Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin wurde er sowohl vom Theater und als auch vom Film geprägt. Besonders eindrücklich ist die Erzählung über eine besondere Kindheitserfahrung: »Ich war etwa 5 Jahre alt, als ich den Tod meiner Mutter erlebte – nicht in Wirklichkeit, Gott sei Dank, sondern in einem Fernsehfilm.« Dabei wird deutlich, dass er früh lernen musste, über das Verhältnis von Fiktion und Realität nachzudenken. Kehlmann nutzt autobiografische Elemente, um seine Argumente zu veranschaulichen. Seine Beschreibung der künstlerischen Arbeit seines Vaters gibt Einblicke in seine persönliche Verbindung zum Schreiben: »Mein Vater hatte die Angewohnheit, Drehbücher zu diktieren. […] Und wenn er das tat, saß ich oft dabei, reglos, stumm, zuhörend.« Er betont also, wie stark seine literarische Sozialisation von den künstlerischen Berufen seiner Eltern beeinflusst wurde, und deutet auf die spätere Besprechung seines Drehbuchs für die Kafka-Serie voraus.
Zu den rhetorischen Strategien seines Vortrags gehört es, gängige Meinungen über Literatur und Film zu zitieren, um sie zu relativieren oder zu widerlegen, zum Beispiel die verbreitete Behauptung, dass ein »guter Roman unverfilmbar« sei. Dabei stellt er heraus, dass diese Aussage in der Öffentlichkeit oft unkritisch übernommen werde: »Mit kaum einem Satz erntet man mehr Zustimmung auf Partys als mit der Feststellung, ein guter Roman ist immer unverfilmbar.« Indem er auf die Mechanismen des öffentlichen literaturkritischen Diskurses eingeht, betont er, dass populäre Urteile keineswegs plausibel wissenschaftlich begründet sind. Weil er im Rahmen der Vorlesung aber auch kein wissenschaftlich differenziertes Argument verfolgt, ist seine eigene Entgegnung erneut nicht frei von Ironie: »Die meisten Romane sind schlecht und ebenso sind es die meisten Filme, also wie sollten die meisten Filme, die auf Romanen basieren, nicht schlecht sein?« Diese Aussage provoziert, indem sie die Erwartungshaltung des Publikums unterläuft. Schließlich aber erinnert Kehlmann wieder etwas ernster und näher an der literaturwissenschaftlichen Perspektive daran, dass Literatur und Film schlichtweg auf unterschiedliche Weise mit Narration arbeiten. »Romane sind in Filme übersetzbar, und wer etwas anderes behauptet, spricht mit Verlaub nur ein falsches Klischee nach.« Diese Aussage verdeutlicht, dass er den Roman nicht als eine abgeschlossene, isolierte Form versteht, sondern als ein transmedial angelegtes Genre.
Poetik zwischen Unterhaltung und Anspruch
Im Verlauf der Poetik-Dozentur kommt Kehlmann erwartungsgemäß auf weitere Kernfragen einer jeden Poetikvorlesung zu sprechen: seine Beziehung zu vorgängigen Autor:innen, die ethische Verantwortung eines Autors sowie das Verhältnis von Authentizität und Inszenierung. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass er keine festen Regeln für das Schreiben postuliert, sondern die eigenen Schreibprozesse sowie Konventionen und Umstände analysiert. Er betont sowohl die kreative Freiheit des Autors als auch die vielfältigen historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Schreiben beeinflussen. Der Vortrag zeigt performativ, dass er das Spiel mit Formen und die Mehrdeutigkeit der Sprache schätzt, während er gleichzeitig auf die Verantwortung hinweist, die mit dem Schreiben verbunden ist. Er stellt Literatur als ein lebendiges und sich ständig weiterentwickelndes Medium dar, das nicht nur ästhetischen, sondern auch moralischen und sozialen Anforderungen gerecht werden muss.
Kehlmann ist sich seiner Wirkung als öffentliche Person bewusst und nutzt Ironie, um die eigene Position als Schriftsteller und Vortragender zu relativieren. Mit dieser Selbstironie distanziert er sich immer wieder ein wenig von den Erwartungen des Kulturbetriebs an ihn. Zugleich ermöglicht sein humorvoller und selbstironischer Stil eine besondere Nähe zum Publikum. Mit Humor und Ironie gelingt es ihm, das Publikum auf eine spielerische Weise an komplexe Fragen heranzuführen und dabei Unterhaltung und intellektuellen Anspruch zu verbinden. Er spielt mit Sprache, mit rhythmisierten Satzstrukturen und pointierten Wendungen, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer:innen mit einem lebendigen Vortrag zu fesseln.
Ein Vergleich mit Nora Bossongs Vortrag, der im Rahmen dieses Essays nicht gezogen werden kann, würde zeigen, wie breit die Palette an diskursiven Möglichkeiten innerhalb der Gattung Poetikvorlesung ist.[6]
Zitierte Quellen
Binczek, Nathalie: Poetikvorlesung und die Selbstdokumentation der Literatur. In: Friedrich Balke, Oliver Fahle und Annette Urban (Hrsg.): Durchbrochene Ordnungen. Das Dokumentarische der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2020. S. 41–64.
Kempke, Kevin: Forschungsüberblick. In: Gundela Hachmann, Julia Schöll und Johanna Bohley (Hrsg.): Handbuch Poetikvorlesungen. Berlin: de Gruyter 2022. S. 27–25.
Video Tübinger Poetikdozentur November 2024: Vorlesung von Daniel Kehlmann: »Gattungen, Tonfälle, Stimmen«, aufgerufen am 10.03.2025. https://www.youtube.com/watch?v=qlnrf6f3uic.
Wozonig, Karin S.: Die literarische Biografie zwischen Lebensbild und Selbstbild. In: Aussiger Beiträge 14 (2020). S. 201–214. https://ab.ff.ujep.cz/files/14_2020/AB_2020-14_201-214_Wozonig.pdf.
[1] Vgl. Kevin Kempke: Forschungsüberblick. In: Gundela Hachmann, Julia Schöll und Johanna Bohley (Hrsg.): Handbuch Poetikvorlesungen. Berlin: de Gruyter 2022. S. 27–25. S. 29.
[2] Vgl. Nathalie Binczek: Poetikvorlesung und die Selbstdokumentation der Literatur. In: Friedrich Balke, Oliver Fahle und Annette Urban (Hrsg.): Durchbrochene Ordnungen. Das Dokumentarische der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2020. S. 41–64. S. 43.
[3] Vgl. Kempke: Forschungsüberblick. S. 29.
[4] Vgl. Binczek: Poetikvorlesung. S 42.
[5] Video Tübinger Poetikdozentur November 2024: Vorlesung von Daniel Kehlmann: »Gattungen, Tonfälle, Stimmen«, aufgerufen am 10.03.2025. https://www.youtube.com/watch?v=qlnrf6f3uic. Da in der Folge im Wesentlichen auf die Inhalte dieser Vorlesung eingegangen wird, verzichte ich bei den weiteren Zitaten und Paraphrasen auf die Angabe eines genauen Timecodes, sondern verweise hiermit auf die Aufzeichnung der Vorlesung.
[6] Für die inhaltliche und redaktionelle Beratung und zahlreiche Hinweise im Prozess der Überarbeitung bedanke ich mich bei Prof. Dr. Evi Zemanek und den Mitgliedern des Kurses »Poetiken der Gegenwart« (Wintersemester 2024/25, Deutsches Seminar, Universität Tübingen).
