Die Poetikvorlesung als Genre: Daniel Kehlmanns Beitrag »Gattungen, Tonfälle, Stimmen«

Poe­tik­vor­le­sun­gen stel­len eine Beson­der­heit inner­halb der lite­ra­ri­schen und aka­de­mi­schen Land­schaft dar. Sie bie­ten eine ein­zig­ar­ti­ge Platt­form, auf der Schriftsteller:innen ihre poe­to­lo­gi­schen Ansät­ze und indi­vi­du­el­len Schaf­fens­pro­zes­se reflek­tie­ren und einem Publi­kum prä­sen­tie­ren kön­nen. Ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel gab Dani­el Kehl­mann mit sei­ner Poe­tik­vor­le­sung im Rah­men der Tübin­ger Poe­tik­do­zen­tur im Novem­ber 2024. Kehl­mann, ein Autor, der stets die Gren­zen zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on aus­lo­tet, nutzt die­ses For­mat auf cha­rak­te­ris­ti­sche Wei­se: als Büh­ne des Den­kens. Sei­ne Vor­le­sung war nicht nur eine poe­to­lo­gi­sche Aus­ein­an­der­set­zung über das Schrei­ben, son­dern auch ein viel­schich­ti­ges Spiel mit lite­ra­ri­schen Tra­di­tio­nen und den Erwar­tun­gen an das Autor­sub­jekt. Doch was genau macht Kehl­manns Poe­tik­vor­le­sung zu einem bemer­kens­wer­ten Bei­trag inner­halb die­ses Gen­res? Ist es eine bewuss­te Posi­tio­nie­rung inner­halb der lite­ra­ri­schen Tra­di­ti­on oder viel­mehr eine spie­le­ri­sche Dekon­struk­ti­on eben­je­ner Tra­di­tio­nen? Indem er sich mit »Gat­tun­gen, Ton­fäl­len und Stim­men« aus­ein­an­der­setzt, denkt Kehl­mann nicht nur über sei­nen eige­nen Schreib­pro­zess nach, son­dern auch über die Bedin­gun­gen der lite­ra­ri­schen Pro­duk­ti­on ins­ge­samt. Das For­mat der Poe­tik­vor­le­sung dient ihm dabei nicht nur zur Selbst­ver­or­tung, son­dern auch zur kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem lite­ra­ri­schen Betrieb. Vor die­sem Hin­ter­grund lohnt es sich, zunächst erst­mal einen genaue­ren Blick auf die Poe­tik­vor­le­sung als lite­ra­ri­sches Gen­re und ihre his­to­ri­sche Ent­wick­lung zu wer­fen.

Die Poe­tik­vor­le­sung als lite­ra­ri­sches Gen­re erlang­te durch die Eta­blie­rung der ers­ten Poe­tik­do­zen­tur mit den Bei­trä­gen von Inge­borg Bach­mann an der Uni­ver­si­tät Frank­furt im Win­ter­se­mes­ter 1959/60 ihre insti­tu­tio­nel­le Basis. Die­ses damals neue aka­de­mi­sche For­mat schuf eine Ver­bin­dung zwi­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und der prak­ti­schen Tätig­keit des Schrei­bens, die es ermög­lich­te, lite­ra­ri­sche Wer­ke sowohl ana­ly­tisch zu betrach­ten als auch krea­tiv zu erfas­sen.[1] Eine sol­che Ziel­set­zung ver­weist auf die hybri­de Natur des For­mats, das sich nicht auf rein wis­sen­schaft­li­che oder lite­ra­ri­sche Kri­te­ri­en beschränkt, son­dern eine dia­lo­gi­sche Bezie­hung zwi­schen die­sen Per­spek­ti­ven her­stellt.[2] Die­se Ent­wick­lung mar­kiert nicht nur einen Wen­de­punkt in der aka­de­mi­schen Land­schaft, son­dern betont auch die wach­sen­de Aner­ken­nung von Lite­ra­tur als Hand­werk und intel­lek­tu­el­le Pra­xis. Die Grün­dung der Frank­fur­ter Poe­tik­do­zen­tur ver­deut­licht ein zuneh­men­des Inter­es­se dar­an, eine Platt­form für den Aus­tausch zwi­schen Akademiker:innen und Schriftsteller:innen zu schaf­fen. Die Bereit­schaft, Gastdozent:innen aus der Lite­ra­tur­land­schaft ein­zu­la­den, reprä­sen­tiert einen inno­va­ti­ven Ansatz, die indi­vi­du­el­le Arbeits­wei­se und lite­ra­ri­sche Refle­xi­on in den Vor­der­grund zu stel­len.[3]

Von einem rein aka­de­mi­schen Ereig­nis hat sich die Poe­tik­vor­le­sung zu einem inte­gra­ti­ven mul­ti­me­dia­len Event ent­wi­ckelt, das Per­for­ma­ti­vi­tät und media­le Archi­vie­rung betont. Letz­te­res ermög­licht es nicht nur lite­ra­ri­sche Posi­tio­nen dar­zu­stel­len, son­dern die­se auch dau­er­haft zugäng­lich zu machen.[4] Dadurch wird die Poe­tik­vor­le­sung idea­ler­wei­se zu einem Doku­ment künst­le­ri­scher Bewusst­wer­dung , das sowohl für die Gegen­wart als auch für die Nach­welt von Bedeu­tung ist. Das Gen­re der Poe­tik­vor­le­sung hat in der zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tur an Rele­vanz gewon­nen, da sie das Selbst­ver­ständ­nis von Autor:innen doku­men­tiert. Die Offen­heit der Poe­tik­vor­le­sung erlaubt es Vor­tra­gen­den, ein brei­tes Spek­trum an The­men, Ansät­zen und Per­spek­ti­ven ein­zu­brin­gen.

Der Autor als Performer: Kehlmanns Auftritt im Audimax

Im voll­be­setz­ten Audi­max der Tübin­ger Uni­ver­si­tät erwar­ten Kehl­mann meh­re­re hun­dert Student:innen aller Semes­ter und Bürger:innen jeden Alters. Kehl­mann tritt nicht im Anzug auf, son­dern in schwar­zem Sak­ko, schwar­zem Hemd, schwar­zer Hose und schwar­zen Schu­hen  – eine klas­si­sche, zurück­hal­ten­de Wahl, die Serio­si­tät aus­strahlt. Es ist jene unauf­fäl­li­ge Art von Klei­dung, die bei sol­chen Anläs­sen stets ange­mes­sen ist – unauf­dring­lich, unauf­fäl­lig, so zurück­hal­tend, dass sie kei­ner­lei Auf­merk­sam­keit auf sich zieht und nach­träg­lich in kei­ner Erin­ne­rung haf­ten bleibt. Sei­ne Klei­dung sug­ge­riert einen aka­de­mi­schen Habi­tus, ohne dabei über­trie­ben for­mell zu wir­ken.

Er beginnt sei­nen Vor­trag »Gat­tun­gen, Ton­fäl­le und Stim­men« mit einer abge­wan­del­ten Beschei­den­heits­for­mel:

Guten Abend, mir fällt gera­de eine amü­san­te Iro­nie die­ses Titels auf, den ich dem heu­ti­gen Abend gege­ben habe. Man gibt ja immer Titel, muss die ja bekannt geben, lan­ge bevor man über­haupt das auf­ge­schrie­ben hat oder notiert hat, was man sagen wird.[5]

Mit die­ser Bemer­kung unter­gräbt Kehl­mann die Vor­stel­lung einer lang­fris­ti­gen Vor­be­rei­tung. Indem er sei­ne eige­ne Unver­bind­lich­keit im Umgang mit sol­chen Titeln, die einen wis­sen­schaft­li­chen Anspruch vor­ge­ben, ent­hüllt, bricht er selbst­iro­nisch die Erwar­tung an einen klas­si­schen Vor­trag. Gleich­zei­tig nimmt er durch­aus die Rol­le des poe­ta doc­tus ein, des gebil­de­ten Autors, der sowohl über das eige­ne Schrei­ben als auch über die Lite­ra­tur­ge­schich­te reflek­tiert. Sein Publi­kum adres­siert er direkt, indem er frü­he­re Auf­trit­te in Tübin­gen erwähnt und sogar dar­auf ein­geht, dass eini­ge Zuhörer:innen ihn mög­li­cher­wei­se schon bei sei­ner ers­ten Vor­le­sung dort gehört haben. Dies schafft eine per­sön­li­che Ver­bin­dung zum Publi­kum.

Kehl­mann nutzt die Per­for­ma­ti­vi­tät sei­ner Vor­le­sung gezielt, um den Inhalt zu struk­tu­rie­ren und gleich­zei­tig iro­ni­sche Bre­chun­gen ein­zu­bau­en. Er kennt die Erwar­tun­gen eines gemisch­ten Publi­kums und anti­zi­piert ver­schie­dens­te Reak­tio­nen. Zu den ein­lei­ten­den Bemer­kun­gen gehört auch die fol­gen­de: »Ich habe gera­de eine Erkäl­tung über­stan­den und wer­de des­we­gen wahr­schein­lich aus stimm­li­chen Grün­den viel Was­ser trin­ken. Das ist nicht der furcht­ba­re Durst, son­dern die Stim­me.« Mit der The­ma­ti­sie­rung einer gewis­sen kör­per­li­chen, stimm­li­chen Beein­träch­ti­gung ver­weist er dar­auf, dass die Poe­tik­vor­le­sung eben nicht pri­mär als Text, son­dern zual­ler­erst als Live-Ereig­nis funk­tio­nie­ren muss. Die­se Art der per­for­ma­ti­ven Selbst­the­ma­ti­sie­rung fin­det sich oft in Poe­tik­vor­le­sun­gen. Ein wei­te­res Bei­spiel ist sein Rück­blick auf einen frü­he­ren Vor­trag in Tübin­gen, bei dem er auf­grund einer ver­lo­re­nen Stim­me nur kräch­zend spre­chen konn­te: »Damals konn­te ich wirk­lich nur kräch­zen, ich hat­te sogar John gefragt, ob er die­sen Abend allei­ne machen kann. Und er hat gesagt: Nein.« Die­se Anek­do­te setzt nicht nur einen humor­vol­len Ton, son­dern the­ma­ti­siert auch die Fra­gi­li­tät des gespro­che­nen Wor­tes und sie erfüllt – wie­der­um selbst­iro­nisch – die ange­kün­dig­te The­ma­ti­sie­rung von »Stim­men« im Vor­trag.

Ein humorvoller Parcours durch die Gattungslandschaft

In sei­nem Vor­trag geht es vor­ran­gig um ver­schie­de­ne Gat­tun­gen und sein Ver­hält­nis zu ihnen. Kehl­mann ord­net sich bewusst in die lite­ra­ri­sche Tra­di­ti­on ein, indem er zunächst über die Ursprün­ge von Gat­tun­gen spricht. Sei­ne Ana­ly­se der his­to­ri­schen Ent­wick­lung des Gedichts unter­streicht dies: »Das Gedicht stammt wohl direkt vom Zau­ber­spruch ab, von den ältes­ten Ver­su­chen unse­rer Vor­fah­ren, das Cha­os der Welt zu ban­nen und zu meis­tern.« Die­se Bezug­nah­me auf die Ursprün­ge der Poe­sie als magisch-ritu­el­le Pra­xis zeigt sein Bewusst­sein für die his­to­ri­schen Wur­zeln lite­ra­ri­scher For­men. Indem er sol­che Tra­di­ti­ons­li­ni­en auf­zeigt, posi­tio­niert er sich selbst als lite­r­ar­his­to­risch und kul­tur­ge­schicht­lich bewan­der­ten Autor. Er stellt den Schreib­pro­zess nicht als idea­li­sier­te krea­ti­ve Erfah­rung dar, son­dern the­ma­ti­siert die rea­len Her­aus­for­de­run­gen ver­schie­de­ner Gat­tun­gen. Dies wird beson­ders greif­bar in sei­ner Betrach­tung der Lyrik: »Ein objek­ti­ves Gedicht wäre eben­so ein Unding wie ein all­ge­mein­gül­ti­ges. Ein Gedicht, das Ereig­nis­se berich­tet, wäre schon kei­nes mehr.« Ein Gedicht kön­ne nicht objek­tiv oder neu­tral sein, weil es immer eine per­sön­li­che Per­spek­ti­ve, Emp­fin­dung oder Hal­tung trans­por­tie­re. Objek­ti­vi­tät ste­he im Wider­spruch zur inne­ren Logik lyri­scher Spra­che. Eben­so sei ein »all­ge­mein­gül­ti­ges« Gedicht unmög­lich, da Dich­tung immer auf Ein­zel­wahr­neh­mung, sub­jek­ti­ve Wahr­heit und sprach­li­che Ver­dich­tung set­ze – nicht auf All­ge­mein­ver­bind­lich­keit. Damit grenzt er das Gedicht von Erzäh­lun­gen ab. Ein Gedicht, das bloß Tat­sa­chen erzählt, ver­lie­re sei­nen poe­ti­schen Cha­rak­ter, weil es nicht um Fak­ten gehe, son­dern um Stim­mun­gen, Ein­drü­cke, Klän­ge, Mehr­deu­tig­keit – das Unfass­ba­re im Aus­druck. Kehl­manns Über­le­gun­gen zu den Gren­zen der Lyrik ver­wei­sen auf eine zen­tra­le Pro­ble­ma­tik lite­ra­ri­schen Schrei­bens: Wie kann sub­jek­ti­ves Erle­ben in eine Form gefasst wer­den, die den­noch all­ge­mein­gül­tig bleibt?

Kehl­mann the­ma­ti­siert nicht nur die lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen, son­dern auch die prak­ti­schen Bedin­gun­gen des Schrei­bens. Dies wird beson­ders in sei­ner Ana­ly­se der wirt­schaft­li­chen Rea­li­tät von Schriftsteller:innen deut­lich: »Für die Abfas­sung eines Romans braucht es immer­hin einen ein­zel­nen Men­schen und eini­ge Mona­te oder Jah­re. Das kos­tet nicht die Welt, aber es ist doch ein Luxus, den man sich leis­ten kön­nen muss.« Dabei zeigt sich ein kla­res Bewusst­sein für die Abhän­gig­keit lite­ra­ri­scher Pro­duk­ti­on von finan­zi­el­len und struk­tu­rel­len Bedin­gun­gen. Die­se Betrach­tung über die mate­ri­el­le Basis des Schrei­bens ent­spricht aktu­el­len Ten­den­zen in Poe­tik­vor­le­sun­gen, in denen Autor:innen zuneh­mend über ihre Posi­ti­on im Lite­ra­tur­be­trieb nach­den­ken.

Eine zen­tra­le The­se Kehl­manns ist, dass der Roman eine beson­de­re Form der Welt­erfas­sung dar­stellt, die durch Viel­stim­mig­keit und Per­spek­tiv­wech­sel geprägt ist: »Der Roman ist zugleich die Form der Empa­thie wie auch der Iro­nie. In sei­ner klas­si­schen Aus­prä­gung stellt er die Ver­we­bun­gen der Gesell­schaft dar und rela­ti­viert so jeden abso­lu­ten Wahr­heits­an­spruch.« Dies zeigt eine deut­li­che Abgren­zung von ande­ren lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen, ins­be­son­de­re dem Gedicht, das für ihn stär­ker mit indi­vi­du­el­ler Sub­jek­ti­vi­tät ver­bun­den ist. In sei­ner Poe­tik­vor­le­sung posi­tio­niert sich Dani­el Kehl­mann deut­lich als Roman­cier und nicht als Lyri­ker. Der Roman erscheint ihm als jene lite­ra­ri­sche Form, die beson­ders geeig­net ist, Welt in ihrer Kom­ple­xi­tät zu erfas­sen – durch Viel­stim­mig­keit, Per­spek­tiv­wech­sel, Empa­thie und Iro­nie. Er beschreibt ihn als Gen­re, das gesell­schaft­li­che Ver­flech­tun­gen sicht­bar macht und abso­lu­te Wahr­heits­an­sprü­che rela­ti­viert. Wäh­rend sei­ne Über­le­gun­gen zur Lyrik eher abs­trakt und distan­ziert blei­ben, spricht er über den Roman mit einer Ver­traut­heit, die auf eige­ne Pra­xis und ästhe­ti­sche Über­zeu­gung ver­weist. So wird klar: Kehl­mann ver­steht sich in ers­ter Linie als Erzäh­ler – als jemand, der sich der Welt lite­ra­risch durch die Form des Romans nähert.

Kehl­mann zeigt in sei­ner geist­rei­chen, durch Humor auf­ge­lo­cker­ten Vor­le­sung ein aus­ge­präg­tes Bewusst­sein für die Bedin­gun­gen lite­ra­ri­scher Pro­duk­ti­on. Ein Bei­spiel für sei­ne reflek­tier­te Hal­tung zum Kul­tur­be­trieb fin­det sich in sei­ner Ana­ly­se des Thea­ters als einer Kunst­form, die stets auf finan­zi­el­le Unter­stüt­zung ange­wie­sen ist: »Thea­ter ist nicht denk­bar ohne einen rei­chen Fürs­ten im Hin­ter­grund, so ist es ent­stan­den, und in demo­kra­ti­schen Umstän­den wird die­se Rol­le vom Steu­er­zah­ler über­nom­men.« Indem er die öko­no­mi­schen Grund­la­gen des Thea­ters the­ma­ti­siert, hebt er sich von einer rein ästhe­ti­schen Betrach­tung ab und ver­weist auf die Abhän­gig­keit der Kunst von gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren.

Kehl­manns Vor­trags­wei­se zeigt eine geziel­te Mischung aus theo­re­ti­scher Ana­ly­se, iro­ni­scher Distan­zie­rung und per­sön­li­cher Erkennt­nis. Er nutzt sei­ne Stim­me und die Inter­ak­ti­on mit dem Publi­kum bewusst, um sei­ne Argu­men­te zu unter­strei­chen. Auf­fäl­lig ist dies in Momen­ten, in denen er humor­vol­le Bemer­kun­gen ein­streut, etwa wenn er sich über die schwie­ri­gen Cha­rak­te­re vie­ler Dramatiker:innen aus­lässt: »Es ist kein Zufall, dass wir in der Lite­ra­tur­ge­schich­te so vie­le Bei­spie­le von Dra­ma­ti­kern haben, die, um es vor­sich­tig zu sagen, schwie­ri­ge Leu­te waren.« Das dar­auf­fol­gen­de Lachen des Publi­kums zeigt, dass Kehl­mann hier nicht nur Wis­sen ver­mit­telt, son­dern sei­ne Vor­le­sung als eine Art Per­for­mance insze­niert, in der er bewusst mit dem Publi­kum inter­agiert.

Sein Vor­trag bleibt nicht theo­re­tisch, son­dern wird durch per­sön­li­che Erfah­run­gen und fami­liä­re Anek­do­ten ange­rei­chert. Er gibt Ein­bli­cke in sei­ne Erfah­rung mit dem Schrei­ben unter­schied­li­cher Gat­tun­gen. Er beschreibt nicht nur die theo­re­ti­schen Unter­schie­de zwi­schen Roman und Dra­ma, son­dern auch die emo­tio­na­len Aus­wir­kun­gen des Schreib­pro­zes­ses: »Wenn ich an einem Thea­ter­stück schrei­be und es geht gut, bin ich ner­vös. Ich füh­le mich reiz­bar und ange­grif­fen, ich den­ke in Kon­flik­ten.« Es zeigt sich, dass der Schreib­pro­zess für ihn nicht nur eine intel­lek­tu­el­le, son­dern auch eine kör­per­lich-emo­tio­na­le Erfah­rung ist. Die­se Pas­sa­ge offen­bart das Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen krea­ti­ver Kon­trol­le und der inne­ren Zer­ris­sen­heit, die mit dem Ver­fas­sen bestimm­ter Gat­tun­gen ein­her­geht.

Man könn­te sagen, dass Kehl­mann sich in sei­nem Par­cours durch die lite­ra­ri­sche Gat­tungs­land­schaft als ein Autor prä­sen­tiert, der grund­sätz­lich in jeder Form zu Hau­se sein könn­te, dabei aber durch­aus per­sön­li­che Vor­lie­ben erken­nen lässt, ins­be­son­de­re für den Roman, dem er die größ­te erzäh­le­ri­sche Offen­heit und intel­lek­tu­el­le Reich­wei­te zuschreibt. In sei­ner Ana­ly­se der Abhän­gig­keit des Thea­ters von finan­zi­el­ler Unter­stüt­zung wird deut­lich, dass er sich nicht nur als Künst­ler, son­dern auch als Ken­ner des Kul­tur­be­triebs posi­tio­niert: »Das Gedicht ist eine ganz und gar indi­vi­du­el­le, der Roman eine demo­kra­ti­sche, das Thea­ter auch wei­ter­hin eine ten­den­zi­ell höfi­sche Form«, resü­miert er.

Kehl­mann stellt kei­ne fes­ten poe­to­lo­gi­schen Regeln auf, son­dern arbei­tet mit offe­nen Gedan­ken­gän­gen und Gegen­über­stel­lun­gen. Er ver­mei­det eine nor­ma­ti­ve Poe­tik, indem er die ver­schie­de­nen Gat­tun­gen nicht hier­ar­chi­siert, son­dern neben­ein­an­der stellt: »Der Lyri­ker und der Roman­cier spre­chen direkt. Die Stim­me, die wir hören oder lesen, ist die Stim­me des Autors. Sie mag ver­stellt sein, aber sie gehört ihm.«Mit der Aus­sa­ge­be­tont Kehl­mann, dass trotz aller sti­lis­ti­schen Mit­tel und lite­ra­ri­schen Ver­frem­dun­gen letzt­lich immer die indi­vi­du­el­le Stim­me des Autors hör­bar bleibt. Kehl­mann ver­steht das lite­ra­ri­sche Spre­chen als Aus­druck eines künst­le­ri­schen Sub­jekts – viel­ge­stal­tig, aber nie unper­sön­lich.

Erzählen zwischen Literatur und Film: Kehlmanns Gattungsreflexion

Sei­ne eige­ne Ent­wick­lung als Autor begrün­det Kehl­mann durch­aus bio­gra­fisch. Als Sohn eines Regis­seurs und einer Schau­spie­le­rin wur­de er sowohl vom Thea­ter und als auch vom Film geprägt. Beson­ders ein­drück­lich ist die Erzäh­lung über eine beson­de­re Kind­heits­er­fah­rung: »Ich war etwa 5 Jah­re alt, als ich den Tod mei­ner Mut­ter erleb­te – nicht in Wirk­lich­keit, Gott sei Dank, son­dern in einem Fern­seh­film.« Dabei wird deut­lich, dass er früh ler­nen muss­te, über das Ver­hält­nis von Fik­ti­on und Rea­li­tät nach­zu­den­ken. Kehl­mann nutzt auto­bio­gra­fi­sche Ele­men­te, um sei­ne Argu­men­te zu ver­an­schau­li­chen. Sei­ne Beschrei­bung der künst­le­ri­schen Arbeit sei­nes Vaters gibt Ein­bli­cke in sei­ne per­sön­li­che Ver­bin­dung zum Schrei­ben: »Mein Vater hat­te die Ange­wohn­heit, Dreh­bü­cher zu dik­tie­ren. […] Und wenn er das tat, saß ich oft dabei, reg­los, stumm, zuhö­rend.« Er betont also, wie stark sei­ne lite­ra­ri­sche Sozia­li­sa­ti­on von den künst­le­ri­schen Beru­fen sei­ner Eltern beein­flusst wur­de, und deu­tet auf die spä­te­re Bespre­chung sei­nes Dreh­buchs für die Kaf­ka-Serie vor­aus.

Zu den rhe­to­ri­schen Stra­te­gien sei­nes Vor­trags gehört es, gän­gi­ge Mei­nun­gen über Lite­ra­tur und Film zu zitie­ren, um sie zu rela­ti­vie­ren oder zu wider­le­gen, zum Bei­spiel die ver­brei­te­te Behaup­tung, dass ein »guter Roman unver­film­bar« sei. Dabei stellt er her­aus, dass die­se Aus­sa­ge in der Öffent­lich­keit oft unkri­tisch über­nom­men wer­de: »Mit kaum einem Satz ern­tet man mehr Zustim­mung auf Par­tys als mit der Fest­stel­lung, ein guter Roman ist immer unver­film­bar.« Indem er auf die Mecha­nis­men des öffent­li­chen lite­ra­tur­kri­ti­schen Dis­kur­ses ein­geht, betont er, dass popu­lä­re Urtei­le kei­nes­wegs plau­si­bel wis­sen­schaft­lich begrün­det sind. Weil er im Rah­men der Vor­le­sung aber auch kein wis­sen­schaft­lich dif­fe­ren­zier­tes Argu­ment ver­folgt, ist sei­ne eige­ne Ent­geg­nung erneut nicht frei von Iro­nie: »Die meis­ten Roma­ne sind schlecht und eben­so sind es die meis­ten Fil­me, also wie soll­ten die meis­ten Fil­me, die auf Roma­nen basie­ren, nicht schlecht sein?« Die­se Aus­sa­ge pro­vo­ziert, indem sie die Erwar­tungs­hal­tung des Publi­kums unter­läuft. Schließ­lich aber erin­nert Kehl­mann wie­der etwas erns­ter und näher an der lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­ti­ve dar­an, dass Lite­ra­tur und Film schlicht­weg auf unter­schied­li­che Wei­se mit Nar­ra­ti­on arbei­ten. »Roma­ne sind in Fil­me über­setz­bar, und wer etwas ande­res behaup­tet, spricht mit Ver­laub nur ein fal­sches Kli­schee nach.« Die­se Aus­sa­ge ver­deut­licht, dass er den Roman nicht als eine abge­schlos­se­ne, iso­lier­te Form ver­steht, son­dern als ein trans­me­di­al ange­leg­tes Gen­re.

Poetik zwischen Unterhaltung und Anspruch

Im Ver­lauf der Poe­tik-Dozen­tur kommt Kehl­mann erwar­tungs­ge­mäß auf wei­te­re Kern­fra­gen einer jeden Poe­tik­vor­le­sung zu spre­chen: sei­ne Bezie­hung zu vor­gän­gi­gen Autor:innen, die ethi­sche Ver­ant­wor­tung eines Autors sowie das Ver­hält­nis von Authen­ti­zi­tät und Insze­nie­rung. Zusam­men­fas­send ist fest­zu­hal­ten, dass er kei­ne fes­ten Regeln für das Schrei­ben pos­tu­liert, son­dern die eige­nen Schreib­pro­zes­se sowie Kon­ven­tio­nen und Umstän­de ana­ly­siert. Er betont sowohl die krea­ti­ve Frei­heit des Autors als auch die viel­fäl­ti­gen his­to­ri­schen und gesell­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen, die das Schrei­ben beein­flus­sen. Der Vor­trag zeigt per­for­ma­tiv, dass er das Spiel mit For­men und die Mehr­deu­tig­keit der Spra­che schätzt, wäh­rend er gleich­zei­tig auf die Ver­ant­wor­tung hin­weist, die mit dem Schrei­ben ver­bun­den ist. Er stellt Lite­ra­tur als ein leben­di­ges und sich stän­dig wei­ter­ent­wi­ckeln­des Medi­um dar, das nicht nur ästhe­ti­schen, son­dern auch mora­li­schen und sozia­len Anfor­de­run­gen gerecht wer­den muss.

Kehl­mann ist sich sei­ner Wir­kung als öffent­li­che Per­son bewusst und nutzt Iro­nie, um die eige­ne Posi­ti­on als Schrift­stel­ler und Vor­tra­gen­der zu rela­ti­vie­ren. Mit die­ser Selbst­iro­nie distan­ziert er sich immer wie­der ein wenig von den Erwar­tun­gen des Kul­tur­be­triebs an ihn. Zugleich ermög­licht sein humor­vol­ler und selbst­iro­ni­scher Stil eine beson­de­re Nähe zum Publi­kum. Mit Humor und Iro­nie gelingt es ihm, das Publi­kum auf eine spie­le­ri­sche Wei­se an kom­ple­xe Fra­gen her­an­zu­füh­ren und dabei Unter­hal­tung und intel­lek­tu­el­len Anspruch zu ver­bin­den. Er spielt mit Spra­che, mit rhyth­mi­sier­ten Satz­struk­tu­ren und poin­tier­ten Wen­dun­gen, um die Auf­merk­sam­keit sei­ner Zuhörer:innen mit einem leben­di­gen Vor­trag zu fes­seln.

Ein Ver­gleich mit Nora Bossongs Vor­trag, der im Rah­men die­ses Essays nicht gezo­gen wer­den kann, wür­de zei­gen, wie breit die Palet­te an dis­kur­si­ven Mög­lich­kei­ten inner­halb der Gat­tung Poe­tik­vor­le­sung ist.[6]

Zitierte Quellen

Bin­c­zek, Natha­lie: Poe­tik­vor­le­sung und die Selbst­do­ku­men­ta­ti­on der Lite­ra­tur. In: Fried­rich Bal­ke, Oli­ver Fah­le und Annet­te Urban (Hrsg.): Durch­bro­che­ne Ord­nun­gen. Das Doku­men­ta­ri­sche der Gegen­wart. Bie­le­feld: tran­script 2020. S. 41–64.

Kemp­ke, Kevin: For­schungs­über­blick. In: Gun­de­la Hach­mann, Julia Schöll und Johan­na Boh­ley (Hrsg.): Hand­buch Poe­tik­vor­le­sun­gen. Ber­lin: de Gruy­ter 2022. S. 27–25.

Video Tübin­ger Poe­tik­do­zen­tur Novem­ber 2024: Vor­le­sung von Dani­el Kehl­mann: »Gat­tun­gen, Ton­fäl­le, Stim­men«, auf­ge­ru­fen am 10.03.2025. https://www.youtube.com/watch?v=qlnrf6f3uic.

Wozo­nig, Karin S.: Die lite­ra­ri­sche Bio­gra­fie zwi­schen Lebens­bild und Selbst­bild. In: Aus­si­ger Bei­trä­ge 14 (2020). S. 201–214. https://ab.ff.ujep.cz/files/14_2020/AB_2020-14_201-214_Wozonig.pdf.


[1] Vgl. Kevin Kemp­ke: For­schungs­über­blick. In: Gun­de­la Hach­mann, Julia Schöll und Johan­na Boh­ley (Hrsg.): Hand­buch Poe­tik­vor­le­sun­gen. Ber­lin: de Gruy­ter 2022. S. 27–25. S. 29.

[2] Vgl. Natha­lie Bin­c­zek: Poe­tik­vor­le­sung und die Selbst­do­ku­men­ta­ti­on der Lite­ra­tur. In: Fried­rich Bal­ke, Oli­ver Fah­le und Annet­te Urban (Hrsg.): Durch­bro­che­ne Ord­nun­gen. Das Doku­men­ta­ri­sche der Gegen­wart. Bie­le­feld: tran­script 2020. S. 41–64. S. 43.

[3] Vgl. Kemp­ke: For­schungs­über­blick. S. 29.

[4] Vgl. Bin­c­zek: Poe­tik­vor­le­sung. S 42.

[5] Video Tübin­ger Poe­tik­do­zen­tur Novem­ber 2024: Vor­le­sung von Dani­el Kehl­mann: »Gat­tun­gen, Ton­fäl­le, Stim­men«, auf­ge­ru­fen am 10.03.2025. https://www.youtube.com/watch?v=qlnrf6f3uic. Da in der Fol­ge im Wesent­li­chen auf die Inhal­te die­ser Vor­le­sung ein­ge­gan­gen wird, ver­zich­te ich bei den wei­te­ren Zita­ten und Para­phra­sen auf die Anga­be eines genau­en Time­codes, son­dern ver­wei­se hier­mit auf die Auf­zeich­nung der Vor­le­sung.

[6] Für die inhalt­li­che und redak­tio­nel­le Bera­tung und zahl­rei­che Hin­wei­se im Pro­zess der Über­ar­bei­tung bedan­ke ich mich bei Prof. Dr. Evi Zema­nek und den Mit­glie­dern des Kur­ses »Poe­ti­ken der Gegen­wart« (Win­ter­se­mes­ter 2024/25, Deut­sches Semi­nar, Uni­ver­si­tät Tübin­gen).