Tja, liebe Animationsfilm-Hater, die ihr meint, so etwas Lächerliches wie anthropomorphisierte, sprechende Tiere kann höchstens Kinder begeistern. Hier haben wir jetzt einen Film, in dem nichts so Kindliches vorkommt wie menschliche Sprache. Flow ist die Geschichte einer Katze, die in einer scheinbar erst kürzlich von den Menschen verlassenen Welt mit stetig steigendem Hochwasser ums Überleben kämpft. Und dabei wird miaut, gegrunzt, gequakt, gefaucht, gebellt, gekräht, nur gesprochen eben nicht.
Dieser Film hat nun den Animations-Oscar gewonnen und wir können uns leicht vorstellen, wie prätentiöse Industry-Insider ganz hin und weg sind von der authentischen Inszenierung des Animalischen in einer totlangweiligen Zelebrierung der Abwesenheit von interessanter Handlung. Zumindest ein bisschen befürchtete ich das, als ich die Karten kaufte. Auch als ich mich im Kinosaal niederließ, war ich noch mental darauf eingestellt, einen Gimmick-Film zu sehen, der eine mäßig innovative Idee ausschlachtet und sich ganz darüber definiert, Der-Film-mit-der-Katze-ohne-Dialog zu sein. Sogar nach den ersten 10 Minuten hatte ich noch den Eindruck, dass die Story mich nicht überzeugen würde, denn wie soll auch eine anspruchsvolle, nuancierte Geschichte erzählt werden ohne, naja, dass irgendwer mal was erzählen kann. Wie sollen die Charaktere sich austauschen, wie sollen sie etwas voneinander erfahren, einander verletzen, sich versöhnen, wie sollen sie pointiert etwas ausdrücken, das mir das Gefühl gibt, auf eine ganz neue Art und Weise auf die Welt zu blicken, wenn sie nicht sprechen können?
Die erste Viertelstunde hatte ich, um ehrlich zu sein, den Eindruck, dass der Film nur funktionieren wird, weil er sich damit zufrieden gibt, durch seine unterkomplexen Charaktere eine einzige Emotion hervorzurufen — und zwar Angst. Angst vor der Katastrophe, vor den Elementen, den Naturgewalten, vor dem Unaufhaltbaren, dem, was größer als wir und unbegreiflich ist, Angst vor Gott, oder etwas Ähnlichem, göttlichem Zorn, vor der Tragödie. In der Welt von »Flow« steigt das Wasser rapide und scheinbar unendlich an, überschwemmt alles, was nicht bei drei in einem Boot ist. Die Unheimlichkeit dieses Szenarios lässt sich vielleicht gerade durch die nicht sprechenden und hilflos wirkenden Tiere gut hervorrufen. Das Thema erinnert auch sofort an Bilder und Überschriften aus unserer Welt und ruft so direkt zu Beginn die Erwartung hervor, dass wir aus dem Film eine Metapher für den Klimawandel herauslesen dürfen. Trotz des Versprechens einer Allegorie bleibt das Übertragen von Angst auf das Publikum doch ein mittelmäßig beeindruckender Taschenspielertrick. An dieser Stelle im Film dachte ich verstanden zu haben, dass die tagesaktuelle Thematik und starke, wenn auch rohe und unnuancierte Emotionalität der Grund sein muss, weshalb der Film Erfolge bis hin zum Oscar erzielen konnte. Doch dann änderte sich alles, als das Capybara auftauchte.
Ich will an dieser Stelle nicht vorwegnehmen, welchen Kontext das Auftauchen dieser mystischen Gestalt genau hat, aber es markiert einen maßgeblichen Wendepunkt, ab dem der Film aufhört, sich hauptsächlich darauf zu konzentrieren, das Setting zu etablieren, und beginnt, sich der Entwicklung der Charaktere und ihrer sozialen Dynamiken zu widmen.
Und da kommt die Sprache ins Spiel. Zwar keine menschliche – und auch die verschiedenen tierischen Ausdrucksweisen zeigen große Kommunikationshürden zwischen den Spezies auf –, aber die filmische Sprache explodiert geradezu. Klar, auch vorher konnte ich die Körpersprache der Tiere, gepaart mit der Art und Weise, wie die ›Kamera‹ sie in Szene setzt, interpretieren und diese Sprache des Films verstehen. Aber ab diesem Moment, in dem sich die Protagonisten-Katze beginnt, auf andere Tiere einzulassen und soziale Bindungen mit ihnen einzugehen, spüre ich deutlich, wie eine mir vertraute Sprache beginnt, die Charaktere sorgfältig auszuschmücken und mit emotionaler Tiefe zu versehen. Es ist der Fakt, dass sich alle Charaktere, die die sich nun bildende Protagonistengruppe ausmachen, anfühlen wie äußerst vertraute Archetypen, der in mir das Gefühl vom plötzlichen Verstehen auslöst und mich das Ganze als neues Stadium in der Kommunikation des Filmes identifizieren lässt. Vor meinen Augen ordnet sich das Verhalten der Tiere für mich sorgfältig in Mustern an und breitet sich aus wie ein vieldimensionales Puzzle, dessen Lösung noch irgendwo in meinen Erinnerungen schlummert. Die Abenteuergruppe hat, ganz anleitungsgetreu, die begeisterungsfähigen Extroverts und die verschlossenen Introverts, deren Herz aus Gold sich erst in schwierigen Situationen zeigt. Die Ausgestoßenen, die sich der Gruppe anschließen, ebenso wie die, die scheinbar aus dem nichts aufgetaucht sind und von einer Aura von Weisheit umgeben sind. Ja, die Interaktionen sind klischeebehaftet und so begeistert ich davon bin, dass mir das soziale Gefüge so gut ohne Dialog vermittelt werden kann, so weist doch diese Bedingung für meine Begeisterung auf eine gewisse Gimmickhaftigkeit der Sprachlosigkeit hin. Was mich aber darüber hinwegsehen, um nicht zu sagen es ganz und gar vergessen lässt, ist, wie unfassbar charmant, sympathisch, bezirzend die Interaktionen sind. Auch wenn mich der Ausgang der sozialen Szene selten überrascht, so bin ich doch stets zu 100% einverstanden mit dem Verlauf und bin mit jedem Schritt vorwärts auf der Reise auch ein Stück verliebter in die Figuren und gespannter auf die eine große Frage, die mir bis zum Ende blieb: Wie kann ein befriedigendes Ende für diese Art von Geschichte aussehen?
An dieser Stelle noch ein kurzer Einschub: Der Film ist wunderschön! Die Animation der Tiere ist erstklassig, ihre Bewegungen fühlen sich absolut natürlich an. Der Zeichenstil ist natürlich Geschmackssache, wer aber die Eindrücke von Poster und Trailer mag, der kann sich darauf freuen, die gesamte Laufzeit über konstant beeindruckende Bilder geliefert zu bekommen. Erst ganz am Ende in einer recht schlichten Szene richtete ich einmal meine Aufmerksamkeit genauer auf das eigentlich den ganzen Film über sehr präsente Wasser und bemerkte, wie gelungen die notorisch schwierige Animation die ganze Zeit schon war. Wer schon beim letzten Avatar-Film beeindruckt vom CGI-Wasser war… der braucht Flow vielleicht nicht zu schauen, das ist ein ganz anderer künstlerischer Anspruch.
Nun zum Ende. Wer sich selbst ein unvoreingenommenes Bild machen will, soll das gerne tun, deswegen meine Gedanken zum Ende hinter dem Spoilerschutz. Als Fazit will ich aber bereits versichern, dass es gelingt. Bis zu seinem Ende war es ein wirklich sehr schöner Film, der mich komplett überzeugt hat und den ich gerne weiterempfohlen hätte. Aber das Finale hebt ihn nochmal auf eine ganz neue Stufe. Es verleiht dem Film so viel Bedeutung, erst in einer ambigen Szene, die wunderbar dazu einlädt, die eigene Interpretation des soeben Gesehenen hineinzuprojizieren und dann mit einem richtigen emotionalen Hammer, einer finalen Szene, die das vorher so Abstrakte und Mehrdeutige mit einem Schlag erdet, der ganzen Handlung eine neue Dimension gibt und mir das Gefühl vermittelt, einen neuen Blick auf die Wirklichkeit aufgezeigt bekommen zu haben. Ein schlicht vollkommenes Ende!
So nun aber nochmal mit Spoilern, weil ich einfach so viele Gedanken, vor allem zu diesem Ende habe:
Spoiler!
Zuerst die Szene mit dem Kranich. (Ist es einer? Ich sag das jetzt einfach mal. Der Vogel halt.) Schon seit der ersten Begegnung hatten die Kraniche etwas Übernatürliches, einfach dadurch, wie sie auf die anderen Tiere herabschauen. Auch dass sie dann mehrmals die Katze gerettet haben, hat dazu beigetragen. Was dann auf dem Gipfel des Berges passierte, war in meinen Augen die Transzendenz des Kranichs. Ich bin davon überzeugt, dass in diesem Moment eine neue Gottheit entstanden ist, die dann auch direkt dafür verantwortlich ist, die unablässige Flut umzukehren. Wahrscheinlich sehen das nicht alle so. Für mich liegt ein besonderer Reiz darin, dass diese Szene herausragend uneindeutig ist. Sie lässt viele Interpretationsmöglichkeiten offen, was bei manchen Kinogängern für Unmut ob der Ambiguität sorgen mag, für mich aber eine tolle Spekulations- und Projektionsfläche darstellt. Ich wäre auch unzufrieden mit der Schwammigkeit, wenn dies tatsächlich die finale Szene des Films wäre. Aber im Anschluss wird diese plötzlich über uns hereingebrochene Metaphysik so wunderschön wieder geerdet. Zuerst durch die Todesgefahr für die Tiere im Boot, das jetzt nach dem rapiden Absinken des Wasserspiegels plötzlich in einem Baum über einem Abgrund hängt. Die Tiere nun auf festen Boden zu transportieren, ist eine Herausforderung, die für den Kranich, selbst bevor er zu einer höheren Daseinsform aufstieg, wohl kaum ein Problem gewesen wäre, aber auf sich alleine gestellt sind die flugunfähigen Tiere gerade so in der Lage, sie zu meistern.
Danach kommt jedoch das absolute Highlight. Ein wahrer Hammerschlag, das riesige walähnliche Tier, das zuvor die Katze in ihrer dunkelsten Stunde wieder emporhob und vor dem Ertrinken rettete, liegt im Sterben. Plötzlich wird klar, der Rückgang der Flut, der sich Minuten zuvor noch so monumental triumphal angefühlt hat, hat auch seine Schattenseiten. Die unzähligen bunten Fische, die die Katze so oft beobachtet und genossen hatte, sind, wenn sie Glück hatten, nun irgendwo viele hunderte Meter weiter unten, gequetscht in kleinen Bächen und Rinnsalen, oder wenn sie Pech haben, liegen sie auf wieder freigelegten Wiesen, Hängen, Baumkronen und Hausdächern und verenden kläglich. Wenn der Kranich wirklich der Heiland der Landtiere und verantwortlich für den Rückgang der Flut ist, dann ist er für die Wassertiere ein Racheengel, der gekommen ist, sie mit Feuer und Schwert auszulöschen.
Und was passiert nun? Plötzlich ist klar, der Film ist kein Kampf zwischen Gut und Böse. So lange war das Wasser nur eine Quelle der Angst. Es war dunkel und feindlich und bedrohte die Lebewesen, mit denen wir uns identifizierten. Plötzlich aber wird klar, es war die ganze Zeit über auch ein Lebensraum. Bedeutet das, jetzt in diesem Moment des unermesslichen Leidens der Wassertiere, wird eines von ihnen ausgewählt und sinkt in einem bunten Lichtstrahl herab in die tiefsten Tiefen, um zu einer höheren Daseinsform aufzusteigen und seine neugewonnene Macht zu nutzen, um eine neue Flut auszulösen? War dann das Opfer des Kranichs umsonst? Wie lange läuft dieser Kreislauf schon? Der Titel und speziell das an einen Ensō erinnernde »O« treten hervor und erinnern uns daran, dass schon von Beginn an nie die Rede davon war, dass Bewegung nur in eine Richtung vonstatten geht.
Und all das wird perfekt eingefangen im Blick der Katze in das Auge des riesigen Wals, dem Verständnis in ihrem Blick und dann dem Blick in die Pfütze, der auch schon zu Beginn des Filmes da war. Beide Male: das Erblicken des Spiegelbildes, die Betrachtung des Selbst, im Wasser, das der Feind ist, oder aber ein Lebensraum, wie passt das Selbst hier rein? Welchen Platz haben wir, als kleiner Tropfen, der nur Frieden will, in diesem riesigen Meer voller gnadenloser Wellen? Was hat sich überhaupt verändert seit Beginn des Films, nach all diesem verzweifelten Kampf ums Überleben sind wir wieder genau hier, blicken in die Pfütze und fragen uns, wann die nächste Flut wieder steigt. Unfassbare Emotionen liegen in diesem Blick auf das Spiegelbild in der Pfütze. Und dann treten die Freunde dazu, das Capybara, der Retriever, der Lemur. Und auch sie blicken in die Pfütze, Seite an Seite. Und es wird klar, vielleicht ist der Flow zyklisch und bringt uns immer wieder an seinen Anfang zurück, vielleicht wiederholt sich die Geschichte und alle Utopien sind zum Scheitern verdammt, vielleicht wird auf jedes Hoch auch wieder ein Tief folgen. Aber keine Wiederholung ist je genauso wie die vorherige Instanz, allein weil ihr etwas vorausgegangen ist. Die Katze befindet sich wieder in derselben Situation, aber diesmal ist sie zu Beginn nicht allein. Die Erfahrungen, der Kampf, haben ihre Spuren hinterlassen und sie haben Bande geformt. Und der Flow, aus dem kein Ausbruch möglich ist, der uns alle mit sich reißt, ist es vielleicht wert, befahren zu werden, wenn darin Gemeinschaft gefunden werden kann.