Der historische Roman ist ein in der Gegenwartsliteratur beliebtes Genre. Daniel Kehlmann gilt als Experte auf dem Gebiet und zieht mit seinen Büchern sowie seiner öffentlichen Präsenz viele Leser:innen an. Anlässlich der Tübinger Poetik-Dozentur 2024 sprach er mit Nora Bossong, die ihren historischen Roman Reichskanzlerplatz (2024) vorstellte, über den Prozess des Schreibens über Geschichte und über seinen letzten Roman Lichtspiel (2023), der vom Leben und Schaffen des Regisseurs G. W. Pabst unter dem Regime der Nationalsozialisten handelt. Kehlmanns Werk verhandelt dabei die Graubereiche in einer Diktatur, in denen sich Menschen bewegen, die weder Täter noch Opfer sind und trotzdem durch ihre Arbeit das System mittragen und jeden Moment in Gefahr scheinen, doch in die eine oder andere Kategorie hineinzurutschen. Von außen betrachtet ist der Roman ein Beispiel fiktionaler Geschichtsschreibung, die sich im Vergleich mit einer akademischen Geschichtswissenschaft Fragen nach der Methodik des Forschungs- und Schreibprozesses sowie der Authentizität und Aussagekraft der Werke stellen muss. Dieser Essay erörtert am Beispiel von Kehlmanns Roman unter Einbezug seiner mündlichen Stellungnahmen zu seiner Arbeitsweise während der Tübinger Poetik-Dozentur (2024) und im Rahmen des ZEIT ONLINE-Podcast Alles gesagt? (2024), ob und auf welche Weise historische Erfahrung beschreibbar ist, und wie sie literarisch und gesellschaftlich integriert werden kann.
Kann Kunst die Geschichte retten?
»Denn all das geht vorbei. Aber die Kunst bleibt.«[1] Mit diesen Worten verteidigt der Protagonist G. W. Papst in Daniel Kehlmanns historischem Roman Lichtspiel (2023) sich und seine künstlerische Arbeit als Regisseur unter dem Regime der Nationalsozialisten. Die Frage, was von der Geschichte bleibt, was wie erzählt und aufgearbeitet wird, stellt sich immer wieder neu und wird in der Literatur(wissenschaft) ebenso verhandelt wie in den Geschichtswissenschaften. Klar ist, dass aus der Zeit des Nationalsozialismus vor allem der Schrecken über die abgründige Grausamkeit des Holocausts geblieben ist. Wie trotz der rigiden, menschenfeindlichen Strenge des Regimes ein Filmbetrieb am Laufen gehalten wird, welche Kompromisse es dafür bedarf und wie die Beteiligten den Seiltanzakt zwischen Konformität und kreativer Freiheit vollführen und dabei selbst Gefahr laufen, in moralische Abgründe zu schlittern, davon erzählt Kehlmanns Roman. Das Werk verhandelt die Frage nach der künstlerischen Freiheit auf zwei Ebenen: Erstens ist da die Handlung, die eine einzigartige gesellschaftliche Sphäre während des Zweiten Weltkriegs zeigt, in der trotz der politischen Verhältnisse überraschend viel Schaffensgeist und Spielraum herrscht, solange die Vorgaben des Ministeriums befolgt werden. Dabei portraitiert Kehlmann historische sowie fiktionale Figuren, die ganz unterschiedlich mit den Gegebenheiten umgehen, darunter bekannte Gesichter der Filmszene dieser Zeit wie Hauptfigur und Regisseur G. W. Pabst, die Hollywood-Schauspielerin Greta Garbo oder die Regisseurin und NS-Sympathisantin Leni Riefenstahl. Die zweite Ebene bildet der Roman selbst als Werk, anhand dessen die Rolle der Literatur als künstlerisches Medium im Erzählen und Darstellen von Geschichte diskutiert werden kann. Der Roman bedient sich an dem historischen Material, den Personen, den Drehorten und Filmen, und fiktionalisiert die Begebenheiten, verändert, streicht weg und fügt hinzu. Damit entsteht eine neue Geschichte, ein Roman eben. Es stellt sich die Frage, welche Aussagekraft und welchen Grad an Authentizität ein solches Werk besitzt. In welchem Verhältnis steht fiktionale Literatur über historische Ereignisse zu den Geschichtswissenschaften, inwiefern unterscheiden, überschneiden oder ergänzen sich die beiden Felder und wie gestaltet sich ein Schreibprozess, der mit einer solchen historischen Verantwortung beladen ist?
Vergangenes als Gegenwärtiges
Erzählen richte sich natürlicherweise auf Vergangenes, auf das Erzählen von Erfahrungen und Geschichten. So antwortet Daniel Kehlmann im Podiumsgespräch zum Thema »Über Geschichte schreiben« auf die Publikums-Frage, ob es denn notwendig sei, immer über Geschichte zu schreiben. Er meint, »dass es in der Natur des Erzählens liege, von dem zu sprechen, was war«.[2] Selbst wenn Gegenwärtiges erzählt werden soll, geschehe dies häufig im Präteritum, Erzählen sei im Allgemeinen eine Vergangenheitsbewegung. Das historisierende Erzählen von bestimmten einschneidenden Momenten der Geschichte wird auch relevant für die Analyse von Gegenwartsliteratur, wenn jene Momente durch ihre literarische Bearbeitung auf gesellschaftliches Interesse stoßen und in gegenwärtigen Debatten Anschluss finden.
Carolin Amlinger illustriert am Phänomen des »Debattenromans« den Zeitgeist der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und nennt Kehlmanns Lichtspiel neben Werken von Navid Kermani und Kathrin Röggla als Beispiel.[3] Der Debattenroman sei eine Antwort auf die weitläufigen Krisen, denen sich der Literaturbetrieb aktuell stellen müsse. Amlinger verweist auf eine etablierte »Krisendiagnose«, die lautet: »Wir lesen zwar nicht weniger, aber weniger literarische Texte«.[4] Auf dem Büchermarkt ist die Luft dünn geworden und der Literaturbetrieb entwickelt neue Strategien, um die eigene Relevanz gegenüber dem schnelllebigen digitalen Angebot zu verteidigen. Amlinger schildert, wie versucht wird, diskursrelevant und populär zu bleiben, indem »außerliterarische Valorisierungskriterien«[5] für literarische Werke herangezogen werden, die diesen über ihre Literarizität hinaus Bedeutung verleihen. Durch Gegenwartsbezüge manövriere sich die Literatur in die Sphäre aktueller, gesellschaftlicher Debatten und legitimiere ihre Teilhabe am Deutungsprozess des zeitgenössischen Weltgeschehens.[6] ›Gegenwärtig‹ können dabei auch historische Bezüge sein, deren Relevanz und Thematisierung durch politische und gesellschaftliche Dynamiken neu aufflammen.
Die Thematisierung des Nationalsozialismus ist fester Bestandteil öffentlicher Debatten, seine Thematisierung in der deutschsprachigen Kunst, Literatur und Kultur hat seit den 1990er Jahren zugenommen, und eine aktive Auseinandersetzung mit dem Holocaust hat in unterschiedlichen Sphären stattgefunden – so kann man es auch in Überblickswerken zur Gegenwartsliteratur lesen.[7] Die Relevanz der Aufarbeitung der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Tendenzen hat kaum an Aktualität verloren – im Gegenteil. Mit dem Fortlauf der Zeit, dem Wechsel der Generationen verändert sich laut Jan Assmann auch »das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft«.[8] Jetzt, wo es kaum mehr Zeitzeugen gibt und auch Berichte aus zweiter Hand spärlicher werden, muss Erinnerungskultur neu gedacht und konzipiert werden, so auch in der Literatur.
Kehlmann schafft mit Lichtspiel, der nicht direkt ein Kriegsroman ist, thematisch aber von den Verhältnisse in der Kunstszene während des Krieges und unter dem Nazi-Regime handelt, ein Werk, das sich der Bandbreite fiktionaler Darstellungsmöglichkeiten bedient bis hin zu surrealistischen Elementen, an Humor nicht spart und dennoch auf ernsthafte Weise die Lebens- und Arbeitsbedingungen der NS-Zeit verhandelt. Das Werk ist trotz seines hohen Grades an Fiktionalität Teil populärer Erinnerungskultur, nicht zuletzt aufgrund seines historisch belegten Grundgerüsts. So, wie es Herrmann und Horstkotte (schon fast eine Dekade vor dem Erscheinen von Kehlmanns Roman) als charakteristisch für »die neuen Generationenromane«[9] beschreiben, wechselt die interne Fokalisierung in Lichtspiel unter anderem zwischen dem Vater, dem berühmten Regisseur G. W. Pabst, und seinem Sohn hin und her. Dadurch gibt es keine neutrale Erzählinstanz, sondern die Kapitel sind »einzelnen Personen zugeordnet, die jeweils bestimmte Interessen vertreten«.[10] Ein Effekt dieser Erzählweise, der bei Kehlmann beispielhaft zum Tragen kommt, ist die »Vermittlung von Geschichte auf einer persönlichen, nicht-offiziellen Ebene«.[11] Die durch den Roman transportierte, enttäuschende (Un-)Menschlichkeit der Figuren, die diese gleichzeitig nahbar erscheinen lässt, ist ein Aspekt, der Kehlmanns Roman meines Erachtens so breiten Anklang verschafft hat und vielleicht so gegenwärtig erscheinen lässt. Lichtspiel ist weder eine Täter- noch eine Opfererzählung – die Leser:innen begleiten und beobachten eine moralische Durchschnittlichkeit. Sie erfahren etwas über die alltäglichen Vorgänge und das Innenleben der Figuren, die unterschiedlich auf die gesellschaftlichen und politischen Umstände reagieren. Kehlmann erklärt im ZEIT ONLINE-Podcast Alles gesagt?, er wolle mit Lichtspiel nicht per se zum kritischen Gespräch aufrufen, sondern »einen Weg finden, vom Alltag im Dritten Reich zu erzählen«.[12] Pabsts Angepasstheit ans Regime, die Verherrlichung der SS-Männer seitens seines Sohnes oder die untätige Stille im Raum, wenn einer aus dem Film-Team ohne Begründung einfach abgeführt wird, werden im Roman nicht aus einer analytischen Perspektive abgesteckt, sondern den Lesenden subtil unterbreitet, sodass die inneren und äußeren Konflikte spürbar werden. Damit werden gegenwärtige Debatten über den Umgang mit Geschichte und Fragen der Bewertung von historischen Ereignissen und Personen berührt, aber ohne vorgefertigte kritische Einordnung an die Lesenden weitergegeben, die dies entweder aushalten oder selbst reflektieren müssen.
Geschichte(n) schreiben
Kehlmanns Werke nehmen sich oftmals historische Figuren zum Vorbild, die mehr oder weniger verändert in eine abenteuerliche Erzählung eingesponnen werden. Dabei begibt sich der Autor sehr bewusst immer wieder neu in das Spannungsfeld von historischen Fakten und Fiktionen, das er gekonnt spielerisch nutzt, um damit ein breites Publikum anzusprechen. Trotz Fiktionalisierung eröffnen seine Geschichten einen Zugang in vergangene Welten, wie ihn historiografische Studien nicht im selben Maße bieten können. In den Geschichtswissenschaften selbst haben Diskussionen über Schreib- und Darstellungsweisen von Geschichte stetig zugenommen. Konservative Positionen für eine nüchterne Historiographie, die auf nackten Tatsachen beruht, werden aufgebrochen. Die Sprache als wichtigstes Arbeits- und Darstellungsmedium für die Geschichtswissenschaften (sowie für die Literatur) rückt ins Zentrum interner Debatten. Der Historiker Frank Ankersmit vertritt die Meinung, dass literarische Verfahren integrativer Bestandteil der Geschichtswissenschaft seien: »Geschichte ist auch eine empirische Disziplin in dem Sinn, daß sie als ein beständiges Experimentieren mit Sprache betrachtet werden kann.«[13] Der Vergleich und die Annäherung von Literatur- und Geschichtswissenschaft bedeuten nicht, die Grenze zwischen dem künstlerischen Prozess literarischen, fiktionalen Schreibens und einer wissenschaftlich bestrebten Geschichtsschreibung allmählich aufzulösen, sondern die unterschiedlichen Potentiale der Disziplinen auszuloten und sich gegenseitig ergänzen zu lassen.[14] Im Gespräch während der Tübinger Poetik-Dozentur behauptet Kehlmann, beim Schreiben eines historischen Romans sehe er sich selbst »nicht in Konkurrenz zu den Historikern«, sondern sei im Gegenteil auf die Vorarbeit von Historiker:innen angewiesen, deren Expertise er häufig konsultiere, um seinen Romanen Authentizität zu verleihen. Wie oben beschrieben, profitiert die Belletristik von einer thematischen Anreicherung durch historisches Wissen, das ihre Leser:innenschaft über ihre ästhetische Qualität hinaus von ihrer gesellschaftlichen Relevanz überzeugen kann. Umgekehrt muss es im Interesse der Geschichtswissenschaft liegen, ihre Inhalte sprachlich ansprechend zu gestalten, um am öffentlichen Diskurs teilzunehmen, da sie keine Labor-Wissenschaft ist, sondern dialogisch das gesamtgesellschaftliche »historische Bewusstsein«[15] mitprägt. Ankersmit fordert einen zugänglichen Sprachgebrauch in der Geschichtswissenschaft, die sich nicht wie die Naturwissenschaft einen isolierten, spezifizierten Fachjargon erlauben kann, denn: »Wenn Historiker und Historikerinnen aufhören, in einer Sprache zu sprechen, die für alle zivilisierten Mitmenschen verständlich ist, dann vernachlässigen sie ihre kulturelle Pflicht und Verantwortung.«[16]
Wenn Historiker:innen Geschichte(n) schreiben, besteht die Gefahr einer linearen Aneinanderreihung von Ereignissen, die Leerstellen und Brüche ignoriert und abgeschlossene Wirkmechanismen suggeriert, die die historische Realität hinter sich zurücklassen, obwohl nur mit ›Fakten‹ gearbeitet wurde.[17] In diesem Sinn ist die Form der literarischen Darstellung für historische Zusammenhänge entscheidend und ihre Authentizität ergibt sich nicht automatisch aus dem ›Wahrheitsgehalt‹ der Inhalte, sondern ist eng an ihre Erzählweise geknüpft. Bernhard Jussen stellt fest, »Geschichtswissenschaft ist – ganz gleich, wie intensiv und qualitätsvoll sie forscht – am Ende Literatur.«[18] Auch Ankersmit schlussfolgert, dass die Frage nach einer adäquaten Geschichtsschreibung letztendlich eine Ästhetische sei.[19] Demnach verwundert es nicht, dass Hayden White und Walter Benjamin in ihren geschichtsphilosophischen Darlegungen mit ästhetischen bzw. literarischen Kategorien argumentieren. Benjamin kritisiert die universalgeschichtlich eingesetzte klassisch epische Form der Repräsentation historischer Inhalte. Im Erzwingen einer narrativen Kontinuität und der darin implizierten historischen Kausalität sieht Benjamin eine Schwachstelle der »monumentalen epischen Werke«[20] der Geschichtsschreibung, weil dadurch eigentlich aussagekräftige Unebenheiten übergangen werden: »Sind es doch gerade jene Schroffen und Zacken der Überlieferung, die demjenigen Halt bieten, der ›über sie hinausgelangen‹ und somit die reine Geschichte der Sieger überwinden kann und gegen den ›nivellierenden Fluss der offiziellen Geschichte‹ eintritt.«[21] Eine geeignetere Form, die diesen »Glättungsprozesse[n]« potentiell vorbeugen kann, ist Benjamin und Kracauer zufolge der »moderne (historische) Roman, der sich unter Rückgriff auf filmisch inspirierte Darstellungstechniken der Präsentation und Thematisierung historischer Realität – in ihrer Parallelität zur Kamera-Realität – produktiv und sinnstiftend annähert«.[22] Eine solche »filmisch inspirierte« Herangehensweise findet sich exemplarisch bei Kehlmann, da Lichtspiel sich nicht nur thematisch der »Kamera-Realität« annähert, sondern durch szenisches Schreiben eben einen derartigen filmischen Realitätseffekt erzeugt. »Es gibt eben Literatur, die erzählt und trotzdem experimentell ist, in hohem Maß«[23], sagt Kehlmann und beschreibt damit seinen Mittelweg, der einer erzählerischen Kohärenz die Treue hält, während stellenweise experimentelle Effekte aufblitzen, die den Leser:innen fiktive (historischen) Realiätsräume erfahrbar machen.
Kehlmanns Werk ist eine Montage historischer und fiktiver Ereignisse und Figuren, die in einen gut recherchierten historischen Sinnzusammenhang gestellt werden – dennoch bleibt es erfunden. Als fiktionales Werk ist der Roman klar von wissenschaftlich bestrebter Geschichtsschreibung abzugrenzen, er hat andere Ansprüche, was ihn jedoch nicht vom Bildungsprozess eines historischen Bewusstseins ausschließen soll. Kehlmann erläutert im ZEIT ONLINE-Podcast Alles gesagt?, »warum es sinnvoll ist, Romane zu schreiben, zusätzlich zu den Geschichtswerken, die wir haben«[24], an einem Beispiel aus seinem Roman Tyll (2017): Dort flicht er das Thema der hohen Kindersterblichkeit im 17. Jahrhundert literarisch ein, ohne explizit dessen Tragik zu deuten, sondern indem er es in einen historisch-fiktionalen Kontext stellt, der dessen Bedeutung für das familiäre, gesellschaftliche Gefüge erahnen lässt. Historiker:innen seien in der Interpretation solcher Dinge zurückhaltend, da man es nicht wissen könne; Kehlmann aber meint: »Ich als Romanautor kann sagen, ja, vielleicht wissen wir das nicht, aber ich kann’s mir vorstellen und weil auf dem Buch Roman steht, hab ich die Lizenz und die Erlaubnis, das zu erfinden, was ich für wahr halte [lacht], das darf ein Historiker nicht, ein Journalist darf das auch nicht.« Diese Freiheit, Geschichte zu entwerfen, Dinge in den Raum zu stellen, die im Rahmen des Möglichen liegen, bringt eine gewisse Verwundbarkeit mit sich. Ein bekannter Name hilft, hohe Verkaufszahlen und eine treue Leser:innenschaft auch. Schließlich sind es aber die Reaktionen der Rezipient:innen, die journalistischen Beiträge und Kommentare von Historiker:innen als Reaktion auf den Roman, die zeigen, ob das Experiment geglückt ist, ob eine geschichtliche Wirklichkeit durch die Lektüre evoziert wurde. Der Prozess von der Recherche über das Verfassen des Romans bis hin zur öffentlichen Rezeption und Kritik ist in seiner Gesamtheit Teil der Geschichtsbildung, die kollaborativ und parallel zur akademischen Geschichtsforschung stattfindet.
Worte im Kopf und Kino auf dem Papier
Die literarische Inszenierung von Geschichte und ihren historischen Figuren erfordert intensives Hineindenken in die Lebensrealität (und deren historische Erforschung) und mögliche Denkweisen der Charaktere. Kehlmanns unzuverlässige Erzählweise, die dem subjektiven Blick der Figuren geschuldet ist, lässt die Grenzen von inneren Zuständen und externer Realität verschwimmen, was durch surrealistische Wendungen akzentuiert wird – eine Erzählstrategie des (post-)modernen Romans. Und es finden sich weitere typische Elemente des (post-)modernen Romans in Lichtspiel, wie Ankersmit sie in Bezug auf White zusammenfasst: Beispielsweise ein »Unterton des Zweifelns und Fragens«, der die Figuren ständig begleitet und sie gegenüber ihrer Umgebung und sogar der eigenen Wahrnehmung misstrauisch werden lässt. Neben dem Verzicht auf einen »Erzähler objektiver Tatsachen« wird auch »die Idee einer objektiven, chronologischen Zeitskala« aufgebrochen.[25] So finden sich etwa raum-zeitliche und wahrnehmungsbedingte Verzerrungen im Roman, die die Figuren selbst kalt erwischen: beispielsweise als Pabst nach Kriegsbeginn ins Ministerium für Film nach Berlin ›eingeladen‹ wird, wo er sich in dem absurd großen Büro des Ministers wiederfindet – »derart groß waren vielleicht Bahnhofshallen, aber nicht Büros«.[26] Dieser hofiert ihn einerseits als großen Künstler, um ihm im nächsten Satz das KZ anzudrohen und ihn zu dem Versprechen zu zwingen: »Ich will das Meine tun. Für den Aufbau … Deutschlands«.[27] Die Szene ist grotesk, der Minister ist eine Karikatur und wirkt dennoch bedrohlich, und Pabst ist verwirrt, als wähne er sich ›im falschen Film‹. Der Weg ins Ministerium reißt ihn bereits aus der Zeit: Nach einem schummrigen, abendlichen Heimweg, bei dem die Stadt sich aus den Angeln zu heben scheint, so dass »Pabst sich fragte, ob er irgendwie in eine verdrehte Spiegelwelt geraten war«[28], wird er in seinem Hotel sogleich schon vom Fahrer überrascht, den er für den nächsten Morgen erwartet hatte: »Ich habe doch nicht geschlafen, dachte er, während er all den Stoff an seinem Körper befestigte, ich bin eben erst hereingekommen! Doch es half nichts, die Sonne schien, das Auto stand unten.«[29] Und auch als Pabst nach dem Gespräch das Büro des Ministers verlassen will, krümmen sich Raum und Zeit: »Pabst ging weiter auf die Tür zu, die vor ihm zurückzuweichen schien. Er ging schneller, die Tür wich noch schneller zurück […,] mit einem Mal hatte der Raum sich umgefaltet, sodass er an der Decke hing«.[30] Diese traumähnlichen Sequenzen stören den Erzählfluss kaum, obwohl sie die Regeln einer realistischen Erzähllogik missachten. Sie ziehen die Leser:innen so in die subjektive Erlebniswelt der Figuren hinein, dass diese das Gefühl des Ausgeliefertseins erleben, das durch die Auflösung der gewohnten Gesetzmäßigkeiten entsteht.
Filmisches Schreiben ist nicht das Gleiche wie Schreiben für den Film – mit dem Medium verändert sich der Stil. So merkt der erfahrene Drehbuchautor Kehlmann an, dass diese filmische Art des Schreibens nur im Roman unkonventionell wirke; wenn man aber den Text genau so verfilmen würde, wäre das Ergebnis wohl durchschnittlich. Ähnlich verhalte es sich mit ›realistischem Schreiben‹ im Roman. Man könne und solle die Dinge nicht genau so beschreiben, wie sie sind oder waren. Fiktionen müssten sorgfältig komponiert werden, um reale Effekte zu erzielen. Kehlmann stellt in seinem Roman eine erzählerische Kohärenz her, die ein angenehmes Leseerlebnis erlaubt und eine niederschwellige Zugänglichkeit sichert – in diesem Sinne bemüht er sich um Glaubwürdigkeit seiner Geschichte. Gleichzeitig durchbricht er die lineare Erzählung auch andauernd durch die achronologische Anordnung der Sequenzen, durch unzuverlässiges Erzählen und Multiperspektivität bis hin zu Brüchen und Inkohärenzen in der erzählten Welt, die durch surrealistische Elemente deutlich werden. Damit verschiebt er den Fokus von einer Nacherzählung einer Geschichte des Films zu einer filmischen Erzählung von Geschichte, die diese erfahrbar macht.
Filmisches Schreiben bedeutet auch nicht bildliches Schreiben oder den übermäßigen Gebrauch von Detail-Ausführungen. In Bezug auf Roland Barthes geht Kehlmann auf die Kritik des realistischen Erzählens ein, es würden Details eingefügt, die ausschließlich dem Realitäts-Effekt dienen sollen. Im Podiums-Gespräch während der Poetik-Dozentur drängt der Autor diesen Vorwurf für seinen eigenen Schreibstil zurück. Am Beispiel einer Szene, die aus der Perspektive von Pabsts Sohn geschildert wird – eine Besprechung zu den Dreharbeiten von Paracelsus (1943) in Pabsts Landhaus, in die zwei SS-Soldaten reinplatzen, um den Drehbuchautor Kurt Heuser ohne ausführliche Begründung mitzunehmen –, wird dies verdeutlicht:
Draußen kommt ein Auto heran, Kies knirscht unter Bremsen, ein paar Sekunden später ertönt die Türglocke. »Erwarten wir noch jemanden?«, fragt Papa.[31]
Das Knirschen des Kieses trage hier die Funktion, den Aufbau einer unheimlichen Spannung zu untermalen, denn »in einer Diktatur ist das nie eine gute Nachricht, wenn jemand unerwartet kommt«.[32] Und auch nachdem die SS-Soldaten wieder aus der Türe treten, werden die Geräusche vor dem Haus lautstark beschrieben:
Alle sitzen stumm. Von draußen hört man knirschende Schritte auf dem Kies, man hört Jerzabek »Hier bitte, die Herren, Ihre Brote« sagen, man hört dreimal eine Autotür knallen, man hört den Motor anspringen, man hört, wie sich die Reifen knirschend in Bewegung setzen. Dann wird der Motor leiser. Und schließlich hört man wieder die Vögel und den Wind.[33]
Durch alle Geräusche hindurch hört man vor allem bedrückende Stille, was bedeutet, es geht hier nicht um die Vögel und den Kies, sondern um die fragile Normalität, die einem jederzeit gewaltsam entrissen werden kann – jeden Moment kann jemand kommen und einen mitnehmen und die Vögel singen einfach weiter. Was für die Erzählung irrelevant erscheinen mag, kann für das Beschreiben von Erfahrung tragend sein. Dennoch, »ein Roman sollte nur Dinge enthalten, die im Kontext des Romans als Geschichte auch sinnvoll sind, und da muss man oft sogar zurückschalten gegenüber der Wirklichkeit«[34], spricht Kehlmann aus Erfahrung. Manche Fakten seien nicht glaubwürdig, das müssten sie auch nicht sein, weil es eben Fakten sind – Fiktionen hingegen seien auf ihre Glaubwürdigkeit angewiesen.
Zitierte Quellen
Amend, Christoph, Jochen Wegner und Daniel Kehlmann: Daniel Kehlmann, was ist eine gute Geschichte?. [Podcast, 15. August 2024]. https://open.spotify.com/show/6YMJMAh8zJcCwHwe5kSmjT?si=adeeedc2293c494a.
Amlinger, Carolin: »Soviel Gegenwart war selten.«: Über Debattenromane und Debattenwissenschaften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 97 (2023). H. 4. S. 887–899. https://doi.org/10.1007/s41245-023–00218‑5.
Ankersmit, Frank R.: Sprache und historische Erfahrung. In: K. E. Müller und J. Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. S. 388–407.
Eick, Anna-Lena: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«: Visualität in der literarischen Geschichtsdarstellung. Paderborn: Brill | Fink 2024.
Herrmann, Leonhard und Silke Horstkotte: Gegenwartsliteratur: Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016. https://doi.org/10.1007/978–3‑476–05464‑7.
Jussen, Bernhard: Kunst. In: Anne Kwaschik und Mario Wimmer (Hrsg.): Von der Arbeit des Historikers: ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Bielefeld: Transcript 2010. S. 129–134.
Kehlmann, Daniel: Lichtspiel: Roman. Hamburg: Rowohlt 2023.
Kehlmann, Daniel und Nora Bossong: Poetik-Dozentur 2024: Daniel Kehlmann im Gespräch mit Nora Bossong: »Über Geschichte schreiben« (13. November 2024). https://www.youtube.com/watch?v=srkjzOXw2Qw.
Ricœur, Paul: Gedächtnis — Vergessen — Geschichte. In: Klaus E. Müller und Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. S. 433–454.
[1] Daniel Kehlmann: Lichtspiel: Roman. Hamburg: Rowohlt 2023. S. 303.
[2] Daniel Kehlmann und Nora Bossong: Poetik-Dozentur 2024: Daniel Kehlmann im Gespräch mit Nora Bossong: »Über Geschichte schreiben« (13. November 2024). https://www.youtube.com/watch?v=srkjzOXw2Qw. [1:16:01 – 1:16:07]
[3] Vgl. Carolin Amlinger: »Soviel Gegenwart war selten.«: Über Debattenromane und Debattenwissenschaften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 97 (2023). H. 4. S. 887–899. https://doi.org/10.1007/s41245-023–00218‑5. S. 890.
[4] Ebd. S. 899.
[5] Ebd.
[6] Vgl. ebd. S. 890 f.
[7] Vgl. Leonhard Herrmann und Silke Horstkotte: Gegenwartsliteratur: Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016. https://doi.org/10.1007/978–3‑476–05464‑7. S. 73.
[8] Ebd. S. 73.
[9] Ebd. S. 79.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Christoph Amend, Jochen Wegner und Daniel Kehlmann: Daniel Kehlmann, was ist eine gute Geschichte?. [Podcast, 15. August 2024]. https://open.spotify.com/show/6YMJMAh8zJcCwHwe5kSmjT?si=adeeedc2293c494a. [2:48:04 – 2:48:07]
[13] Frank R. Ankersmit: Sprache und historische Erfahrung. In: K. E. Müller und J. Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. S. 388–407. S. 403.
[14] Vgl. Bernhard Jussen: Kunst. In: Anne Kwaschik und Mario Wimmer (Hrsg.): Von der Arbeit des Historikers: ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Bielefeld: Transcript 2010. S. 129–134. S. 133.
[15] Paul Ricœur: Gedächtnis — Vergessen — Geschichte. In: Klaus E. Müller und Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Sinnbildung: Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997. S. 433–454. S. 434.
[16] Ankersmit: Sprache und historische Erfahrung. S. 403.
[17] Vgl. Anna-Lena Eick: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«: Visualität in der literarischen Geschichtsdarstellung. Paderborn: Brill | Fink 2024. S. 121.
[18] Jussen: Kunst. S. 130.
[19] Vgl. Ankersmit: Sprache und historische Erfahrung. S. 405.
[20] Eick: »Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«. S. 67.
[21] Ebd. S. 68.
[22] Ebd. S. 125.
[23] Amend, Wegner und Kehlmann: Daniel Kehlmann, Was ist eine gute Geschichte? [1:06:03 – 1:06:10]
[24] Diese und die weiteren Zitate stammen aus folgender Quelle: Amend, Wegner und Kehlmann: Daniel Kehlmann, was ist eine gute Geschichte?. [3:41:59 – 3:42:50]
[25] Vgl. Ankersmit: Sprache und historische Erfahrung. S. 400.
[26] Kehlmann: Lichtspiel. S. 203.
[27] Ebd. S. 212.
[28] Ebd. S. 199.
[29] Ebd. S. 201.
[30] Ebd. S. 215.
[31] Ebd. S. 293.
[32] Kehlmann und Bossong: Poetik-Dozentur 2024 [0:37:50 – 0:38:02]
[33] Ebd. S. 298.
[34] Kehlmann und Bossong: Poetik-Dozentur 2024 [0:38:36 – 0:38:43]
