»Man muss der Anwalt seiner Figuren sein«: Ambivalente Figuren in Daniel Kehlmanns Lichtspiel und Nora Bossongs Reichskanzlerplatz

Nicht nur, wenn man zum ers­ten Mal kon­fron­tiert wird mit den Schre­cken der Nazi­zeit und den unzäh­li­gen Men­schen, die das alles haben gesche­hen las­sen, stellt man sich die Fra­ge: Wie hät­te ich wohl selbst gehan­delt? Wel­che Prio­ri­tät hat mora­li­sche Inte­gri­tät, wenn man dafür das eige­ne Leben und die Sicher­heit gelieb­ter Men­schen aufs Spiel set­zen muss? Hät­te ich Wider­stand geleis­tet und zu wel­chem Preis? Oder wäre ich eine:r von ihnen gewe­sen, ein:e Mitläufer:in?

Erzäh­lun­gen, die zeit­lich im Drit­ten Reich spie­len, wer­den meist dem Gen­re des his­to­ri­schen Romans zuge­ord­net. Das eröff­net ver­schie­dens­te Dar­stel­lungs­mög­lich­kei­ten für Autor:innen. Wie auch in ande­ren Gen­res besteht die Wahl zwi­schen der Aus­ge­stal­tung einer indi­vi­du­ell zen­trier­ten Erzäh­lung oder einer Hand­lung, die meh­re­re Per­spek­ti­ven abbil­det, die sich viel­leicht sogar in signi­fi­kan­ten Punk­ten von­ein­an­der unter­schei­den. Unge­ach­tet des­sen sind die Figu­ren im Bewusst­sein ihrer Zeit ver­an­kert und den­ken und han­deln dem­entspre­chend.[1] Im Gegen­satz dazu wis­sen die Lesen­den gewöhn­lich, wel­che his­to­ri­schen Ereig­nis­se fol­gen, nach­dem die Hand­lung des Romans bereits abge­schlos­sen ist und was im grö­ße­ren Rah­men pas­siert, wäh­rend die Figu­ren ihren Weg bestrei­ten. Dar­in besteht der »ästhe­ti­sche Reiz des his­to­ri­schen Romans«, der ermög­licht, »die Erleb­nis­wirk­lich­keit der Figu­ren auf ihre spä­te­re Geschicht­lich­keit zu bezie­hen«.[2] Mit die­sem Reiz spie­len auch Nora Bossong und Dani­el Kehl­mann in ihren neus­ten Roma­nen Reichs­kanz­ler­platz (2024) und Licht­spiel (2023), die noch­ei­ni­ges mehr gemein­sam haben als die Rol­le, die Joseph Goeb­bels in ihnen spielt. Mit Hans Kel­ler­bach, einem Diplo­ma­ten mit beson­de­rer Ver­bin­dung zu Mag­da Goeb­bels, und dem Film­re­gis­seur G. W. Pabst wäh­len die bei­den Schrei­ben­den Prot­ago­nis­ten, die kei­nen direk­ten Ein­fluss auf die Gescheh­nis­se aus­üben, aber den­noch mit mehr mora­li­schen Fall­stri­cken kon­fron­tiert wer­den als die gewöhn­li­chen Bürger:innen im NS-Regime. Ihren Draht­seil­akt ent­lang der Mit­schuld zu ver­fol­gen, ist eben­so fas­zi­nie­rend wie abschre­ckend.

Figuren zwischen Gut und Böse

Figu­ren wie rea­le Men­schen las­sen sich oft nicht frei­wil­lig in Schub­la­den ste­cken. Die gro­ße Grau­zo­ne zwi­schen dem ein­deu­tig Guten und dem ein­deu­tig Bösen ist viel­mehr all­ge­gen­wär­tig, heu­te viel­leicht mehr denn je. Die Antiheld:innen zahl­rei­cher Geschich­ten schei­nen immer prä­sen­ter zu wer­den, mög­li­cher­wei­se weil sie ein rea­le­res Bild abbil­den, als es die per­fek­te Hel­din oder der abso­lu­te Böse­wicht jemals könn­te. Den­noch gibt es sie, die­se mora­lisch ein­deu­tig ver­werf­li­chen Figu­ren. Auf ihrer Rei­se durch die Hand­lung begeg­nen ihnen die Protagonist:innen in man­cher­lei Gestalt, sei es nun Joseph Goeb­bels (in bei­den Roma­nen) oder die Regis­seu­rin Leni Rie­fen­stahl (in Licht­spiel). Doch ihre Geschich­ten sind es nicht, die in den bei­den aktu­el­len Wer­ken von Nora Bossong und Dani­el Kehl­mann erzählt wer­den. Statt­des­sen schei­tern die Haupt­fi­gu­ren Hans Kel­ler­bach und G. W. Pabst immer wie­der dar­an, ihren Platz in einer zuneh­mend grau­sa­men Welt zu fin­den und dabei ein rei­nes Gewis­sen zu bewah­ren. Ihre Welt ist die Grau­zo­ne zwi­schen den Extre­men, wel­che sich um die mora­li­sche Inte­gri­tät der Figu­ren zu strei­ten schei­nen.

Eine Roman­hand­lung setzt sich aus ver­schie­de­nen Ele­men­ten zusam­men. Neben der erzähl­ten Welt und dem über­grei­fen­den Hand­lungs­bo­gen sind es vor allem die Figu­ren, die für die Leser­schaft inter­es­sant sind. Die Protagonist:innen sind dabei oft als Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gu­ren ange­legt, deren Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten und Wer­te nach­voll­zieh­bar und gut ver­tret­bar sind. Die Antagonist:innen hin­ge­gen die­nen der Dar­stel­lung des Nega­ti­ven, von dem sich die Leser­schaft abgren­zen kann. In wel­chem Aus­maß man sich nun mit die­ser oder jener Figur iden­ti­fi­zie­ren kann und will, muss jedoch indi­vi­du­ell ent­schie­den wer­den und hängt von ver­schie­de­nen Fak­to­ren ab.

Es gibt ver­schie­de­ne Ansät­ze, wie man Figu­ren lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich ana­ly­sie­ren kann, bei­spiels­wei­se die Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung nach Fotis Jann­idis.[3] Im Zen­trum steht die Erkennt­nis, dass eini­ge wich­ti­ge Unter­schie­de zwi­schen einer rea­len Per­son und einer sprach­lich kon­stru­ier­ten und »inten­tio­nal strukturiert[en]«[4] Figur bestehen. Die Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten letz­te­rer wer­den durch den Text ein­ge­schränkt, der als ein­zi­ge Mög­lich­keit der Infor­ma­ti­ons­ver­ga­be fun­giert. Wie die Figur fik­ti­ons­extern wirkt, kann mit­hil­fe der soge­nann­ten »All­tags­psy­cho­lo­gie«[5] beschrie­ben wer­den, die Men­schen auch im rea­len Leben im sozia­len Umgang mit­ein­an­der anwen­den. Dar­aus lässt sich der »Basis­ty­pus der Figur«[6] ablei­ten, wel­cher erlaubt, die äuße­ren und inne­ren Eigen­schaf­ten zu erfas­sen und zu erken­nen. Hat man ein­mal ein Gefühl für eine Figur ent­wi­ckelt, kön­nen anhand der Annah­me einer gewis­sen Kon­stanz und Kohä­renz wei­te­re Infor­ma­tio­nen ergänzt wer­den, auch wenn die­se nicht expli­zit vom Text benannt wer­den.[7]

Der Ansatz der Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung zeich­net sich vor allem dadurch aus, dass er Figu­ren in einem Rah­men psy­cho­lo­gi­siert, wie es sonst ver­gleichs­wei­se nur bei rea­len Per­so­nen prak­ti­ziert wird. Die Cha­rak­te­ri­sie­rung kann dabei auf direk­te oder auf indi­rek­te Wei­se erfol­gen. Im letz­te­ren Fall wer­den die Bereit­schaft und Kom­pe­tenz der Lesen­den vor­aus­ge­setzt, schlüs­si­ge Infor­ma­tio­nen über die jewei­li­gen Figu­ren aus deren Ver­hal­tens­wei­sen abzu­lei­ten.

Daniel Kehlmanns G. W. Pabst – Ein Künstler um jeden Preis

Dani­el Kehl­manns Licht­spiel[8] hat eini­ge Vari­anz zu bie­ten, was die Figu­ren und ihre jewei­li­gen Moti­va­tio­nen und mora­li­schen Wer­te angeht. Im Zen­trum der Gescheh­nis­se, wenn­gleich nicht immer in einer akti­ven Rol­le, steht der Regis­seur G. W. Pabst. Der Roman schil­dert den Sün­den­fall eines Künst­lers, offen­bart sei­ne Lei­den­schaft sowie sei­ne Schwä­chen und stellt schließ­lich die Fra­ge, inwie­weit der Zweck die Mit­tel hei­li­gen darf.

Pabst wird als Mann mit Prin­zi­pi­en vor­ge­stellt, zumin­dest wenn es um sei­ne gro­ße Lei­den­schaft geht: das Fil­me­ma­chen. Als tem­po­rä­rer Immi­grant sieht er sich in Ame­ri­ka mit schwie­ri­gen Schaf­fens­um­stän­den kon­fron­tiert. Sei­ne Film­idee wird ent­schie­den abge­lehnt, statt­des­sen muss er sich den Wün­schen der Geld­ge­ber beu­gen. Das Ver­trau­en in sei­ne Kom­pe­tenz ist nicht in dem Maß vor­han­den, wie er es gewohnt ist (vgl. L 42 f.). Als ihm Kuno Krä­mer vom Minis­te­ri­um für Pro­pa­gan­da vor­schlägt, er kön­ne in sei­ne Hei­mat zurück­keh­ren und dort nach eige­nem Ermes­sen arbei­ten, zögert er (vgl. L 70), obwohl Krä­mer am rich­ti­gen Hebel ange­setzt hat. »Er muss­te Fil­me dre­hen. Nichts ande­res woll­te er, nichts war wich­ti­ger.« (L 83) – mit die­ser gedank­li­chen Selbst­dia­gno­se fasst Pabst die obers­te Moti­va­ti­on für sein Han­deln, zu die­sem Zeit­punkt sowie spä­ter in der Hand­lung, im Modus der erleb­ten Rede per­fekt zusam­men. Noch bevor er tat­säch­lich nach Deutsch­land zurück­kehrt, wer­den die­se Sät­ze sei­ne selbst­auf­er­leg­te Hand­lungs­ma­xi­me, der sich alles ande­re, auch die Moral, wird unter­wer­fen müs­sen.

Als Pabst mit der Absicht, sei­ne Mut­ter zu besu­chen, zu sei­nem Anwe­sen in der Stei­er­mark reist – der Anschluss Öster­reichs ist bereits erfolgt – wird der point of no return wort­wört­lich über­schrit­ten. Als Pabst und sei­ner Fami­lie dies klar wird, kön­nen sie das Land bereits nicht mehr ver­las­sen. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, sich bis zum Schluss auf dem schma­len Grat zwi­schen Opti­mis­mus und Nai­vi­tät zu bewe­gen (vgl. L 128). Eben­so gibt er sich selbst bereit­wil­lig der Illu­si­on hin, mit Aus­sa­gen wie »Ich bin kein poli­ti­scher Mensch. Ich dre­he nur Fil­me« (L 131) wei­ter­hin nicht gezwun­gen zu wer­den, sich ein­deu­tig poli­tisch zu posi­tio­nie­ren. Doch letzt­end­lich wen­den sich die Umstän­de in Gestalt sei­nes Haus­meis­ters Karl Jerz­a­bek gegen ihn, der ihm sei­ne gespiel­te Sym­pa­thie für das Hit­ler­re­gime nicht abnimmt (vgl. L 159 ff.). Schließ­lich fin­det sich Pabst doch unfrei­wil­lig im Büro von Joseph Goeb­bels wie­der.

Das kaf­ka­esk insze­nier­te Gespräch mit dem Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter mutet absurd an. Obwohl er am Vor­abend noch fest davon über­zeugt war, sich zu kei­ner­lei Kom­pro­mis­sen bereit erklä­ren zu wol­len (vgl. L 198), prä­sen­tiert sich die tat­säch­li­che Lage anders. Eine Nähe zum Kom­mu­nis­mus strei­tet der Regis­seur vehe­ment ab, weil er sich wei­ter­hin als ein zutiefst unpo­li­ti­scher Mensch insze­nie­ren und zudem sein eige­nes Leben ret­ten will (vgl. L 205 f., 210). Wäh­rend Goeb­bels bewusst ist, dass er die voll­stän­di­ge Kon­trol­le über das Gesche­hen hat, will Pabst zu Beginn nicht wahr­ha­ben, dass der Aus­gang des Gesprächs von vorn­her­ein fest­steht. Mit der Wahl zwi­schen einer Inhaf­tie­rung im KZ oder der künf­ti­gen Pro­duk­ti­on von regime­treu­en Fil­men kon­fron­tiert, trifft Pabst sei­ne Wahl und zieht nach Ende des Gesprächs eine posi­ti­ve Bilanz: »War es gut­ge­gan­gen? Offen­bar, denn er war schließ­lich noch frei. […] Ja, es war gut­ge­gan­gen, weil er Zeit gewon­nen hat­te.« (L 215 f.) Trotz der expli­zi­ten Dro­hun­gen des Minis­ters glaubt er noch immer, er kön­ne die Umstän­de zu sei­nen Guns­ten beein­flus­sen. Selbst schul­dig zu wer­den, indem er das Sys­tem aktiv unter­stützt, schließt er zu die­sem Zeit­punkt kate­go­risch aus (vgl. L 216).

Die Ereig­nis­se der fol­gen­den Mona­te zwin­gen Pabst immer wei­ter, sich genau­er mit den Umstän­den sei­nes Schaf­fens aus­ein­an­der­zu­set­zen. Obwohl er sich anfangs noch dage­gen gesträubt hat­te, fin­det er schnell Gefal­len an den Arbeits­be­din­gun­gen, die ihm genau das bie­ten, was er im Aus­land nicht fin­den konn­te. Erst im Nach­gang wird ihm klar, dass er damit genau jenes Regime lobt, von dem er doch eigent­lich so ent­schie­den Abstand wah­ren will (vgl. L 220). Wäh­rend er Leni Rie­fen­stahls Dreh­ar­bei­ten für den Film Tief­land unter­stüt­zen soll, wird Pabst zum ers­ten Mal mit Häft­lin­gen aus einem KZ kon­fron­tiert, die als Sta­tis­ten ans Film­set gebracht wur­den. Obwohl er sich bereits zu Beginn über die Män­ner wun­dert und Fra­gen stellt, bedarf es der Auf­klä­rung durch den Kame­ra­as­sis­ten­ten Franz Wil­zek, damit er die Trag­wei­te des Gan­zen begreift. Sowohl ver­bal als auch kör­per­lich reagiert Pabst ent­setzt und ver­fällt in eine Art Schock­star­re (vgl. L 263 f.). Um sei­ne Arbeit fort­set­zen zu kön­nen, über­nimmt er Franz’ Recht­fer­ti­gung: »Wir können’s nicht ändern. Wir haben es nicht ange­ord­net. Wir kön­nen es nicht ver­hin­dern. Wir haben nichts zu tun damit.« (L 263)

Sei­ne Ehe­frau Tru­de ist die ein­zi­ge, die Pabst direkt damit kon­fron­tiert, wie er sich immer wei­ter in das Leben unter Hit­ler ein­fügt. Neben den all­seits prä­sen­ten The­men Schuld und mora­li­sche Inte­gri­tät wird in einem Gespräch der bei­den die Fra­ge erör­tert, ob und inwie­fern man Kunst von den Umstän­den ihrer Ent­ste­hung tren­nen kann und darf. Wäh­rend Tru­de die Mei­nung ver­tritt, dass Kunst sich nicht von ihren Kon­tex­ten tren­nen lässt, erin­nert Pabst sie dar­an, dass er von einer Viel­zahl ande­rer Men­schen abhän­gig ist, um sei­ner Arbeit nach­ge­hen zu kön­nen (vgl. L 303 f.). Für ihn steht, viel­leicht mehr denn je, der Film an obers­ter Stel­le. »Viel­leicht ist es gar nicht so wich­tig, was man will. Wich­tig ist, Kunst zu machen unter den Umstän­den, die man vor­fin­det.« (L 304 f.), lau­tet sei­ne Recht­fer­ti­gung auf ihre Anschul­di­gun­gen. Der Fort­be­stand der Kunst erhält in die­sem Moment obers­te Prio­ri­tät vor per­sön­li­chen Belan­gen und Moral­vor­stel­lun­gen. Hier fin­det sich ein Anknüp­fungs­punkt an die stets aktu­el­le Debat­te, ob und wie man Kunst von bekann­ten Nationalsozialist:innen oder Kollaborateur:innen des Regimes wei­ter­hin behan­deln soll­te.

Es sind die Gescheh­nis­se rund um Der Fall Molan­der, Pabsts letz­ten Film unter der Herr­schaft des Regimes, die sei­ne nega­ti­ve Ent­wick­lung end­gül­tig zuspit­zen. Unter gro­ßem Zeit­druck und einem Man­gel an ande­ren Alter­na­ti­ven greift der fik­ti­ve Pabst schließ­lich selbst auf KZ-Insas­sen als Statist:innen zurück. Obwohl die Moti­va­ti­on dahin­ter eine ande­re ist, nutzt er nun die zuvor so streng ver­ur­teil­ten Mit­tel Leni Rie­fen­stahls, um sei­nen Film zu ret­ten. Wie­der ein­mal ist es die Maxi­me der Kunst, der alles ande­re unter­wor­fen wird. Die Tat­sa­che, dass Pabst die For­de­rung nicht direkt aus­spricht, son­dern sich so vage aus­drückt, dass sei­ne Assis­ten­ten erra­ten kön­nen, was er damit meint, lässt noch einen Rest Hoff­nung bestehen, dass er sich der mora­li­schen Ver­werf­lich­keit bewusst ist, die er imstan­de ist, anzu­ord­nen. Dass er es den­noch tut, ent­kräf­tet die­se Hoff­nung jedoch sofort wie­der (vgl. L 373 f.). Kehl­manns Pabst strei­tet sogar im Nach­hin­ein die Ver­wen­dung von Häft­lin­gen als Statist:innen sehr vehe­ment ab. Auch wenn über sei­ne Moti­va­ti­on in die­sem Kapi­tel nur gemut­maßt wer­den kann, liegt es nahe, dass es der ein­zi­ge Weg sein könn­te, wie er es schafft, mit sei­ner eige­nen Teil­schuld umzu­ge­hen (vgl. L 401). Die Angst, dass das Opfer der eige­nen Moral umsonst wäre, wenn der Film nicht voll­endet wür­de, erfüllt sich am Ende auf ande­re Wei­se. Bei der Flucht aus Prag gehen die Film­rol­len ver­lo­ren und der Film wird für Pabst bis zu des­sen Tod ver­lo­ren blei­ben (vgl. L 419).

Die Kunst als obers­te Prio­ri­tät zieht sich als Mus­ter kon­se­quent durch die gesam­te Hand­lung. Sowohl in sei­nen Gedan­ken, sofern eine inter­ne Foka­li­sie­rung vor­liegt, als auch in sei­nen ver­ba­len Äuße­run­gen betont Pabst immer wie­der, dass er sei­nen Fil­men alles unter­ord­nen wird. Ein wei­te­res Indiz dafür, dass die­ser Umstand als fes­ter Teil sei­ner Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung ange­se­hen wer­den kann, ist die Tat­sa­che, dass auch ande­re Figu­ren die­se Ansicht klar benen­nen und im Fall von Goeb­bels gegen ihn ein­set­zen kön­nen. Auch wenn die Aus­sicht auf eine wahr­schein­li­che Inhaf­tie­rung und Bestra­fung sei­ner Fami­lie als Argu­ment ver­mut­lich genügt hät­te, war das Ver­spre­chen von Arbeits­be­din­gun­gen, wie ein erfolg­rei­cher Regis­seur sie sich wünscht, eine wirk­mäch­ti­ge Stra­te­gie, um Pabst bei sich zu hal­ten.

Die Erzäh­lung stellt klar die Geschich­te des Regis­seurs Pabst in den Vor­der­grund und hält dafür auch eini­ge Abschnit­te aus der Sicht ande­rer Figu­ren bereit, die teil­wei­se als Kon­trast­fi­gu­ren zum Prot­ago­nis­ten fun­gie­ren kön­nen und sein Leben aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven beleuch­ten. Unter­stützt wird dies durch die wech­seln­den Foka­li­sie­run­gen, die Ein­blick in die Innen­welt ver­schie­de­ner Figu­ren bie­ten. Pabsts Sohn Jakob über­schrei­tet die Gren­ze zum über­zeug­ten Anhän­ger des Natio­nal­so­zia­lis­mus ent­schie­den, wäh­rend sein Vater sich noch immer in der Grau­zo­ne zwi­schen Gut und Böse ver­an­kert. Der Kame­ra­as­sis­tent Franz voll­zieht in gewis­ser Wei­se eine gegen­läu­fi­ge Ent­wick­lung zu sei­nem Men­tor. Wäh­rend er zu Beginn ihrer Bekannt­schaft noch ent­schie­den ist, die Augen vor den Gescheh­nis­sen zu ver­schlie­ßen, nimmt er gegen Ende immer deut­li­cher wahr, in wel­cher Situa­ti­on sich die bei­den befin­den. Bei­de fügen sich schließ­lich in die Schuld einer zu lang ver­dräng­ten Erkennt­nis. Pabsts Frau Tru­de ver­sucht sich an der Funk­ti­on als mora­li­scher Anker für ihren Ehe­mann, schei­tert dar­an jedoch wie­der­holt. Papsts fle­xi­bler Umgang mit der Wahr­heit zeigt sich übri­gens auch in punc­to ehe­li­cher Treue.

G. W. Pabst in sei­ner Zeich­nung durch Dani­el Kehl­mann ist eine kom­ple­xe Figur, die gefan­gen in ihren eige­nen Wider­sprü­chen bleibt. Wo ihn die Umstän­de dazu drän­gen, ist er bereit, Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen und weist oppor­tu­nis­ti­sche Züge auf. Ein­zig sei­ne Kunst ist über jeden Kom­pro­miss erha­ben und wird zum Zweck, der sämt­li­che Mit­tel hei­ligt. Obwohl er es spä­ter bedau­ert, sei­ne Fami­lie und die eige­nen Über­zeu­gun­gen geop­fert zu haben, kommt die­se Ein­sicht erst zu einem Zeit­punkt, an dem nichts davon sich mehr unge­sche­hen machen lässt (vgl. L 446).

Nora Bossongs Hans Kesselbach und Magda Goebbels –
Die Verführungen des Opportunismus 

Im Zen­trum von Reichs­kanz­ler­platz[9] steht Hans Kes­sel­bach, des­sen Leben jedoch eng mit dem von Mag­da Goeb­bels ver­knüpft ist, die er noch als Mag­da Quandt aus sei­ner Kind­heit kennt. Auf­grund die­ser Ver­bin­dung kön­nen die Figu­ren nur gemein­sam betrach­tet wer­den. Mag­da ist dabei weni­ger gut greif­bar, da die Foka­li­sie­rung kon­se­quent auf Hans fixiert ist und sei­ne Beschrei­bun­gen die­ser wich­ti­gen Frau in sei­nem Leben stark vor­ein­ge­nom­men sind und dadurch mit Vor­sicht zu genie­ßen sind. Zugleich ver­sucht er, durch Psy­cho­lo­gi­sie­rung Ver­ständ­nis für Mag­das Hand­lun­gen zu erlan­gen.

Von bei­den Haupt­fi­gu­ren ist Mag­da die­je­ni­ge, deren mora­li­sche Beur­tei­lung durch ihre Taten deut­lich ein­fa­cher aus­fällt. Über die gesam­te Hand­lung gleicht ihre Ent­wick­lung einer deut­li­chen Nega­tiv­kur­ve, deren Anzei­chen sich bereits früh im Roman fin­den las­sen. Damit wird ihre Ambi­va­lenz als Figur ein­ge­schränkt und eine ein­deu­ti­ge­re Les­art vor­ge­ge­ben. Obwohl Hans’ ers­ter Ein­druck von ihr durch­aus posi­tiv zu bewer­ten ist, äußert ihr Stief­sohn Hell­mut sich schon früh kri­tisch über sie – bevor er etwas spä­ter doch ihrer Anzie­hung ver­fällt.

Sie wech­selt so oft ihren Namen und ihren Glau­ben, […] was weiß ich, was sie in Wirk­lich­keit ist. Ver­mut­lich kann sie das nicht mal selbst sagen. Weißt du, sag­te er lei­se, Mama hät­te gemerkt, dass Madame Quandt auch unse­ren Namen nur wie eine Mas­ke trägt. (R 17)

Natür­lich darf nicht außer Acht gelas­sen wer­den, dass die­se Aus­sa­ge von einem Jugend­li­chen kommt, der mög­li­cher­wei­se noch immer von der Trau­er um sei­ne Mut­ter geplagt wird und des­halb aus Prin­zip schlecht über die neue Stief­mut­ter spre­chen will. Den­noch deu­ten die­se Wor­te bereits auf wei­te­re ihrer Eigen­schaf­ten vor­aus, die sich erst im spä­te­ren Hand­lungs­ver­lauf noch zei­gen – Mag­das Suche nach einer Iden­ti­tät und etwas, an das sie glau­ben kann, ihr Hang zum Schau­spiel und ihre Fähig­keit, ande­re Men­schen zu täu­schen.

Zum ers­ten Mal fällt Mag­da in Hans’ Erin­ne­rung nega­tiv auf, als sie nach einem Kino­be­such eine »abfäl­li­ge Bemer­kung« über Künst­ler in einem Café macht (vgl. R 57). Eini­ge Jah­re spä­ter äußert sie sich gegen­über Hans abwer­tend über Völ­ker nicht-euro­päi­schen Ursprungs sowie eman­zi­pier­te Frau­en (vgl. R 102 f.). Das zemen­tiert nicht nur das Frau­en­bild, wel­ches sie für sich selbst akzep­tiert hat und dem sie nach­ei­fert, son­dern auch ihr Gefühl der Über­le­gen­heit denen gegen­über, die sie für weni­ger wert als sich selbst hält. Gleich­zei­tig ist auch ihr eige­nes Selbst­wert­ge­fühl schein­bar abhän­gig von der Vali­die­rung ande­rer, wobei haupt­säch­lich Män­ner gemeint sind (vgl. R 75).

Schon eini­ge Zeit vor ihren ers­ten Berüh­rungs­punk­ten mit dem Faschis­mus äußert Mag­da gegen­über Hans und Hell­mut ihre Bewun­de­rung für Men­schen, die so sehr von einer Idee über­zeugt sind, dass sie bereit sind, sogar ihr Leben dafür zu geben (vgl. R 59). Im spä­te­ren Ver­lauf scheint sie im Faschis­mus für sich genau die­se Idee zu fin­den, »etwas Unbe­ding­tes, etwas, wor­an sie end­lich glau­ben konn­te.« (R 130) Nach­dem sie im Gespräch mit Hans das Ras­sen­ide­al her­vor­hebt und sich völ­ki­schem Gedan­ken­gut nicht abge­neigt zeigt, ist es wenig ver­wun­der­lich, dass sie bald beginnt, Kund­ge­bun­gen zu besu­chen (vgl. R 120 f., 132). Ihr Ein­tritt in die Par­tei und die Auf­nah­me ihrer Arbeit für Joseph Goeb­bels, wenn­gleich sie nach die­ser nicht gezielt gesucht hat­te, erschei­nen vor die­sem Hin­ter­grund bei­na­he als logi­sche Kon­se­quen­zen und ebnen den Weg für alles Wei­te­re (vgl. R  134 f.).

Von die­sem Zeit­punkt an wer­den die Tref­fen zwi­schen Hans und Mag­da sel­te­ner, wäh­rend sein Blick auf sie immer­hin kri­ti­scher wird. Der Mit­tel­punkt ihrer Exis­tenz scheint ihre Stel­lung als »ers­te Frau des Reichs, die blon­de Mut­ter« (R 203) zu sein. Die­sem Ide­al ord­net sie alles unter. Doch trotz allem gelingt es Hans bis zum Ende nicht, sein Bild der ver­füh­re­ri­schen Mag­da aus sei­ner Jugend von der Frau zu lösen, zu der sie gewor­den ist. Sein Schul­ka­me­rad Karl erkennt, dass er noch immer an der Ver­gan­gen­heit fest­hält, und kon­fron­tiert ihn des­halb mit der Rea­li­tät. Indem er Mag­da als »Teu­fel« (R 267) bezeich­net, zwingt er Hans, der »immer gedacht hat­te, das Wort gehö­re zu Mag­das Mann« (ebd.), zum Nach­den­ken. Auch Hell­muts Begeh­ren gegen­über sei­ner Stief­mut­ter darf dabei nicht unbe­ach­tet blei­ben, denn Hans kann sich bis zuletzt nicht befrei­en vom Ein­fluss des Freun­des, über des­sen Tod er nie hin­weg­kommt. All dies erschwert die schnel­le Urteils­fin­dung und ver­schlei­ert die vom Roman impli­zit gezeich­ne­te Schuld­kur­ve. Die Lesen­den wer­den gezwun­gen, Hans’ Zuschrei­bun­gen aus­zu­blen­den und kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, um das Mit­leid mit der jun­gen Stief­mut­ter abzu­schüt­teln.

Auch Hans Kes­sel­bach ist als Figur nicht ein­deu­tig greif­bar, wenn auch ins­ge­samt posi­ti­ver zu beur­tei­len. Die Tat­sa­che, dass die gesam­te Geschich­te aus sei­ner Per­spek­ti­ve erlebt wird, weckt unwei­ger­lich eine gewis­se Sym­pa­thie für ihn, die mit genaue­rer Betrach­tung sei­ner Ent­schei­dun­gen jedoch ins Wan­ken gerät. Wie auch in Mag­das Fall kann der ers­te Ein­druck von Hans als rich­tungs­wei­send ange­se­hen wer­den. Der Roman beginnt mit eini­gen Gedan­ken über den Tod, der durch das Nazi­re­gime im spä­te­ren Text unter­schwel­lig stets prä­sent blei­ben wird (vgl. R 11). Anschlie­ßend belügt Hans sei­ne Mut­ter bezüg­lich eines Kon­do­lenz­briefs an Hell­mut und hofft, er kom­me »viel­leicht mit dem Gewis­sen davon.« (R 12) Der ers­te Ein­druck vom jun­gen Hans ist also der eines Lüg­ners, wenn­gleich die Lüge in Hilf­lo­sig­keit und nicht in bösen Moti­ven grün­det.

Die rest­li­che Schul­zeit des jun­gen Prot­ago­nis­ten ist geprägt von dem Bestre­ben, nicht auf­zu­fal­len und sich mög­lichst gut ins Sys­tem ein­zu­fü­gen. Dazu gehört, sich den Stär­ke­ren zu unter­wer­fen und das zu tun, was die­se von ihm erwar­ten. Hans wird zum Mit­läu­fer beim Aus­schluss eines Mit­schü­lers aus der Klas­sen­ge­mein­schaft, steht jedoch zugleich für Hell­mut ein, des­sen Zunei­gung er sich ver­die­nen will und der zur Grup­pe der Stär­ke­ren gehört. Als sei­ne Mit­schü­ler begin­nen, sich für Mäd­chen zu inter­es­sie­ren, sieht sich Hans mit einer neu­en Erwar­tung kon­fron­tiert, die er zu erfül­len hat. Mit Bezug auf sei­ne Erzäh­lun­gen von sei­ner erfun­de­nen Freun­din reka­pi­tu­liert er dann auch tat­säch­lich selbst rück­bli­ckend: »In die­sem Som­mer lern­te ich auch zu lügen« (R 41).

Schon in der Bezie­hung zu Hell­mut zeigt sich der Hang zur Idea­li­sie­rung, der zu spä­te­rem Zeit­punkt auf Mag­da umschwen­ken wird. Hans, der bereits in frü­hen Jah­ren damit zu kämp­fen hat, sei­ne gesell­schaft­lich stig­ma­ti­sier­te Homo­se­xua­li­tät zu ver­ber­gen, kann die Gefüh­le für sei­nen Freund Hell­mut den­noch nicht unter­drü­cken und »hät­te ihm bei allem zuge­stimmt.« (R 55) Für Hans ist es weni­ger die unbe­ding­te Loya­li­tät zu einer Idee, son­dern viel­mehr die Fixie­rung auf einen gelieb­ten Men­schen, nach dem er sein eige­nes Han­deln aus­rich­tet. Die Kon­for­mi­tät mit Regeln schärft auch Hans’ Vater ihm ein, der selbst lan­ge Zeit im Mili­tär gedient hat. Den­noch legt der Vater ihm als obers­te Maxi­me das eige­ne Gewis­sen nahe, gegen das er nicht han­deln soll, egal wel­che Befeh­le er auch erhal­ten möge (vgl. R 67). Dass Hans sich an die­sen Rat­schlag nicht immer hält, zeigt sich bereits in sei­ner spä­te­ren Affä­re mit Mag­da. Das Bewusst­sein, gera­de nicht mora­lisch kor­rekt zu han­deln, ist zwar durch­aus vor­han­den, doch Hans han­delt bewusst dage­gen und klam­mert sich dabei an eine nai­ve Hoff­nung: »Man wür­de uns schon ver­zei­hen, was wir taten.« (R 107)

Mit der Hal­tung »es war nun eben, wie es war« (R 148) tritt er dem Bund Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Deut­scher Juris­ten bei und ent­schul­digt auch sonst sein regel­kon­for­mes Ver­hal­ten damit. Auch dar­über hin­aus ver­folgt er die­sel­be Stra­te­gie wie zu Schul­zei­ten und nutzt die Mit­tel, die ihm zur Ver­fü­gung ste­hen, um sich mög­lichst gut in die Mas­se ein­zu­glie­dern und nicht her­aus­zu­ste­chen (vgl. R 165). Über die pri­vi­le­gier­te Situa­ti­on, in wel­cher er sich durch sein Eltern­haus und die Bekannt­schaft mit Mag­da befin­det, ist er sich nicht bewusst oder will sie sich schlicht nicht ein­ge­ste­hen (vgl. R 168). Wei­ter­hin ver­schließt er wil­lent­lich die Augen vor den Ent­wick­lun­gen und lässt sich auch von Mag­da bewusst täu­schen, denn »Weni­ges wol­len wir so sehr wie betro­gen wer­den« (R 205).

Mag­das Ent­wick­lung zur über­zeug­ten Natio­nal­so­zia­lis­tin, an wel­cher er sich eine gro­ße Teil­schuld gibt (vgl. R 145), steht stell­ver­tre­tend für all jenes, das er sich nicht ein­ge­ste­hen will. An man­chen Stel­len geht Hans über­ra­schend ehr­lich und hart mit sich ins Gericht und lässt durch­blit­zen, dass er sich sei­ner eige­nen Schuld nur zu gut bewusst ist, nur um im nächs­ten Moment wie­der in die ein­ge­üb­ten Mus­ter der Selbst­täu­schung zu ver­fal­len. Die letz­te Begeg­nung mit Mag­da ver­deut­licht die­sen Umstand noch ein­mal und zeigt das ste­ti­ge Chan­gie­ren zwi­schen Ein­ge­ständ­nis und Illu­si­on. Letzt­end­lich wählt Hans jedoch den Zufall als Aus­re­de für Mag­das Taten und Über­zeu­gun­gen und ergibt sich ein letz­tes Mal in die gelieb­te Täu­schung (vgl. R 279).

Sei­ne Mit­schuld durch akti­ve Igno­ranz und Mit­tra­gen des Sys­tems will Hans sich auch gegen Ende der Hand­lung nicht ein­ge­ste­hen. Direkt mit die­sen Vor­wür­fen kon­fron­tiert, ver­fällt er sofort in eine defen­si­ve Hal­tung und recht­fer­tigt sein Ver­hal­ten, auch wenn er dabei nicht son­der­lich über­zeugt von sei­nen eige­nen Wor­ten wirkt. Aus­sa­gen wie »Viel­leicht gibt es ja doch eine Ver­pflich­tung, durch­zu­hal­ten« (R 260) und »Irgend­wann wird Hit­ler nicht mehr da sein« (R 261) zei­gen, dass Hans noch immer an der Hoff­nung fest­hält, dass sich die Umstän­de eines Tages wie­der bes­sern wer­den und dass man die Zeit bis dahin nur irgend­wie über­ste­hen muss.

Der Roman endet mit einem Aus­tritt aus der Kon­for­mi­tät, indem Hans ent­ge­gen sei­ner Ver­spre­chen nicht nach Ber­lin fährt, um Nina zu hei­ra­ten, son­dern statt­des­sen Hell­muts Grab besucht. Damit gibt er sei­ne Hoff­nung auf ein siche­res Leben im Exil auf, doch die­ser letz­te Akt der Rebel­li­on fällt ange­sichts der rest­li­chen Hand­lung kaum ins Gewicht. So wider­sprüch­lich Hans Kel­ler­bachs Ver­hal­ten bis­wei­len anmu­tet, ist sei­ne Figu­ren­cha­rak­te­ri­sie­rung dabei erstaun­lich kon­stant. Gera­de in sei­ner Ein­glie­de­rung in ein Sys­tem der Stär­ke­ren, um selbst der Äch­tung als Schwä­che­rer zu ent­ge­hen, bleibt sei­ne Moti­va­ti­on von der Schul­zeit bis ins Erwach­se­nen­al­ter die­sel­be. Wie schon als Jun­ge hadert er spä­ter wie­der­holt mit sei­nem Gewis­sen, auch wenn es zu die­sem Zeit­punkt längst um mehr geht als um einen nicht abge­schick­ten Kon­do­lenz­brief. Obwohl die Umstän­de sich immer mehr zuspit­zen, ver­läuft Hans’ Ver­hal­ten eben­so wie sei­ne Sicht­wei­se auf Mag­da wei­ter in den gewohn­ten, aus der Jugend bekann­ten Bah­nen.

Historische Figuren – Ambivalente Protagonisten im Vergleich

Neben der Zuord­nung zum Gen­re des his­to­ri­schen Romans und dem Fokus auf dem­sel­ben Zeit­raum der deut­schen Geschich­te ist es vor allem die Dar­stel­lung der Haupt­fi­gu­ren bei­der Wer­ke, die einen Ver­gleich gera­de­zu her­aus­for­dert. Bei­de Prot­ago­nis­ten – G. W. Pabst und Hans Kel­ler­bach – zeich­nen sich durch ihre äußerst pro­ble­ma­ti­sche Stel­lung zum Gesche­hen ihrer Zeit aus, unge­ach­tet ihrer nur schwer ver­gleich­ba­ren Posi­tio­nen im Gesamt­ap­pa­rat.

Wäh­rend bei gänz­lich fik­ti­ven Geschich­ten kom­plet­te Ent­schei­dungs­frei­heit besteht, bringt ein Text über his­to­ri­sche Per­so­nen auto­ma­tisch gewis­se Auf­la­gen mit sich. Da ihre aktu­el­len Wer­ke weder für Nora Bossong noch für Dani­el Kehl­mann den ers­ten Kon­takt zu die­sem Gen­re dar­stel­len, haben bei­de eige­ne Stra­te­gien ent­wi­ckelt. Bossong berich­tet von Recher­chen in ver­schie­de­nen Archi­ven, um dort in direk­ten Kon­takt mit his­to­ri­schen Quel­len zu kom­men. Auch Kehl­mann befin­det sich oft im Aus­tausch mit Historiker:innen, um die Ein­schät­zun­gen von Expert:innen ein­zu­ho­len, und betont, wie hilf­reich es ist, dass neben gro­ßen poli­ti­schen Ereig­nis­sen auch das All­tags­le­ben der Men­schen immer mehr in den Fokus der For­schung rückt.

In einem Gespräch mit dem Titel »Über Geschich­te schrei­ben«, mode­riert von Doro­thee Kim­mich, schil­dern Kehl­mann und Bossong ihre Her­an­ge­hens­wei­se im Umgang mit his­to­ri­schen Figu­ren. Nach­dem Nora Bossong wuss­te, dass sie einen Roman über Mag­da Goeb­bels schrei­ben woll­te, stell­te sie sich zuerst die Fra­ge der Per­spek­ti­ve. Nach zwei Sei­ten aus der Ich-Per­spek­ti­ve gab sie den ers­ten Ver­such auf und wech­sel­te zu einer Per­spek­ti­ve mit etwas mehr Distanz zu Hans Kes­sel­bach. Für den Moment schließt sie aus, einen Roman aus der Ich-Per­spek­ti­ve eines Men­schen wie Mag­da Goeb­bels zu schrei­ben, aber man wis­se ja nie, was die Zukunft noch brin­gen wer­de. Auch für Dani­el Kehl­mann ist die Stel­lung der Figur in der Gesamt­kom­po­si­ti­on des Romans rele­vant für sei­nen Umgang mit ihr. Beson­ders in Bezug auf die Prot­ago­nis­ten müs­se man »der Anwalt sei­ner Haupt­fi­gu­ren sein«.[10] Sym­pa­thie sei dabei kei­ne zwangs­läu­fi­ge Vor­aus­set­zung, statt­des­sen sei es wich­tig, ihnen »einen gewis­sen Teil von Wür­de und Nach­voll­zieh­bar­keit [zu] belas­sen.«[11]

Um deut­lich zu machen, dass sie zwar die Geschich­te einer his­to­risch ver­brief­ten Per­son erzäh­len, dabei aber kei­nen Anspruch auf bio­gra­phi­sche Akku­ra­tes­se erhe­ben, nut­zen bei­de Schrei­ben­de Fik­ti­ons­si­gna­le in ihren Tex­ten und wei­chen stel­len­wei­se von den rea­len Umstän­den ab. Beson­ders bezeich­nend hier­für ist der Umstand, dass der fik­ti­ve Pabst für die Auf­nah­men sei­nes letz­ten Films auf KZ-Häft­lin­ge als Statist:innen zurück­greift. Wie Dani­el Kehl­mann in sei­nem Ein­zel­vor­trag Gat­tun­gen, Ton­fäl­le, Stim­men erläu­tert, haben For­schun­gen erge­ben, dass kein Film im Drit­ten Reich ohne Zwangs­ar­bei­ter gedreht wur­de. Die­ser Unter­schied sei »letzt­lich ein gra­du­el­ler, aber kein mora­lisch fun­da­men­ta­ler«.[12]

Auch wenn ihre Situa­ti­on und ihre Ent­schei­dun­gen nicht in allen Punk­ten ver­gleich­bar sind, las­sen sich sowohl Hans Kes­sel­bach als auch G. W. Pabst mit dem­sel­ben Wort cha­rak­te­ri­sie­ren: Mit­läu­fer. Bei­de Figu­ren schwan­ken an meh­re­ren Punk­ten in ihren Über­zeu­gun­gen und schei­tern an deren kon­se­quen­ter Durch­set­zung. Auch wenn sich der Zugang zu den Figu­ren in bei­den Roma­nen durch die abwei­chen­den Foka­li­sie­run­gen unter­schei­det, stel­len sie poten­zi­el­le Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bo­te dar, da sie in ihren Ent­schei­dungs­kri­sen mensch­lich wir­ken. Bossong und Kehl­mann spre­chen im Dia­log von einer Art »Kom­pli­zen­schaft«[13], wel­che sowohl die Prot­ago­nis­ten mit dem tota­li­tä­ren Staat, aber auch die Lesen­den mit den Figu­ren ein­ge­hen. Kehl­mann fasst die­sen Umstand zusam­men als »mora­li­sche[] Grau­heit in einem tota­li­tä­ren Staat, wo fast nie­mand unschul­dig ist, aber auch kaum jemand ein wirk­lich rich­tig schlim­mer Ver­bre­cher«.[14] Blickt man am Schluss der Hand­lung dann zurück, ist der End­punkt mora­lisch nicht ver­tret­bar, der Weg dort­hin jedoch alles ande­re als ein­deu­tig. Die­ser Gesamt­ein­druck ist bei Hans Kes­sel­bach mög­li­cher­wei­se noch gra­vie­ren­der als bei G. W. Pabst. In der Art, wie bei­de Figu­ren kon­zi­piert sind und für die Lesen­den ein­ge­führt wer­den, blei­ben ihre Hal­tun­gen bis zuletzt erstaun­lich kon­stant und ber­gen weni­ger Über­ra­schun­gen, als man sich wün­schen wür­de.

Moral to go 

Prot­ago­nis­ten wie Hans Kes­sel­bach und G. W. Pabst sind unbe­quem. Sie ent­las­sen die Lesen­den nicht mit einem guten Gefühl aus der Lek­tü­re, son­dern wecken Zwei­fel, viel­leicht auch an der eige­nen Moral. Genau dar­in sieht Nora Bossong jedoch den Vor­teil sol­cher mora­lisch ›grau­en‹ Figu­ren, denn das »for­dert uns genau her­aus, uns selbst zu hin­ter­fra­gen, und ver­hin­dert, das Böse in der Geschich­te zu exter­na­li­sie­ren«.[15] An zahl­rei­chen Punk­ten kann abge­wo­gen wer­den, ob in einer Situa­ti­on die Angst um das eige­ne Leben als domi­nan­te Hand­lungs­mo­ti­va­ti­on fun­giert oder doch die mora­li­sche Fle­xi­bi­li­tät.

Die Dar­stel­lung des Mit­läu­fer­tums wird in bei­den Roma­nen nicht beschö­nigt, son­dern in unan­ge­neh­mer, weil rea­lis­ti­scher Wei­se dar­ge­stellt. Obwohl man die Hand­lung teil­wei­se aus einer inter­nen Foka­li­sie­rung ver­folgt, sol­len die Ent­schei­dun­gen der Prot­ago­nis­ten des­halb nicht als rich­tig dar­ge­stellt wer­den. Statt­des­sen wird das umge­setzt, was Nora Bossong als eine der Chan­cen von Lite­ra­tur ansieht: »[Sie] berich­tet nicht davon, wie wir pas­sen­de Men­schen sind, son­dern von unse­ren Wid­rig­kei­ten, Fehl­bar­kei­ten und Ver­wund­bar­kei­ten«.[16] Roma­ne wie Reichs­kanz­ler­platz und Licht­spiel ermög­li­chen es, einen eige­nen Stand­punkt im Ver­gleich zu den Figu­ren zu bil­den, und war­nen gleich­zei­tig davor, wie schwer es sein kann, die eige­ne mora­li­sche Inte­gri­tät in einem Sys­tem zu wah­ren, das die Ent­wick­lung zum Mit­läu­fer erschre­ckend ein­fach macht. Die Abwärts­spi­ra­le in die Schuld ist dabei kein frei­er Fall, son­dern viel­mehr eine schier end­lo­se Trep­pe mit vie­len klei­nen Stu­fen. Es scheint, als wür­de man erst mer­ken, wie tief man bereits hin­ab­ge­stie­gen ist, wenn der Weg hin­auf bereits ver­schüt­tet ist.

Zitierte Quellen

Bossong, Nora: Auch mor­gen. Poli­ti­sche Tex­te. Ber­lin: Suhr­kamp 2021.

Bossong, Nora: Reichs­kanz­ler­platz. Ber­lin: Suhr­kamp 2024.

For­kel, Robert: Lite­ra­ri­sches Geschichts­er­zäh­len über die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus seit der Jahr­hun­dert­wen­de. Bestands­auf­nah­me und Typo­lo­gie. In: Dani­el Ful­da und Ste­phan Jae­ger (Hrsg.): Roman­haf­tes Erzäh­len von Geschich­te. Ver­ge­gen­wär­tig­te Ver­gan­gen­hei­ten im begin­nen­den 21. Jahr­hun­dert. Berlin/Boston: de Gruy­ter 2019 (= Stu­di­en und Tex­te zur Sozi­al­ge­schich­te der Lite­ra­tur 148). S. 205–228.

Jann­idis, Fotis: Figur und Per­son. Bei­trag zu einer his­to­ri­schen Nar­ra­to­lo­gie. Berlin/New York: de Gruy­ter 2004 (= Nar­ra­to­lo­gia. Con­tri­bu­ti­ons to Nar­ra­ti­ve Theory/Beiträge zur Erzähl­theo­rie 3).

Kehl­mann, Dani­el: Licht­spiel. 2. Auf­la­ge. Ham­burg: Rowohlt 2023.

Poe­tik-Dozen­tur 2024: Dani­el Kehl­mann im Gespräch mit Nora Bossong. »Über Geschich­te schrei­ben«. https://www.youtube.com/watch?v=srkjzOXw2Qw&t=
3685s. Poe­tik-Dozen­tur 2024: Vor­le­sung von Dani­el Kehl­mann. »Gat­tun­gen, Ton­fäl­le, Stim­men«. https://www.youtube.com/watch?v=qlnrf6f3uic&t=2671s”.


[1] Robert For­kel: Lite­ra­ri­sches Geschichts­er­zäh­len über die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus seit der Jahr­hun­dert­wen­de. Bestands­auf­nah­me und Typo­lo­gie. In: Dani­el Ful­da und Ste­phan Jae­ger (Hrsg.): Roman­haf­tes Erzäh­len von Geschich­te. Ver­ge­gen­wär­tig­te Ver­gan­gen­hei­ten im begin­nen­den 21. Jahr­hun­dert. Berlin/Boston: de Gruy­ter 2019 (= Stu­di­en und Tex­te zur Sozi­al­ge­schich­te der Lite­ra­tur 148). S. 205–228. S. 206 f.

[2] Ebd. S. 208.

[3] Fotis Jann­idis: Figur und Per­son. Bei­trag zu einer his­to­ri­schen Nar­ra­to­lo­gie. Berlin/New York: de Gruy­ter 2004 (= Nar­ra­to­lo­gia. Con­tri­bu­ti­ons to Nar­ra­ti­ve Theory/Beiträge zur Erzähl­theo­rie 3).

[4] Ebd. S. 170.

[5] Ebd. S. 185.

[6] Ebd. S. 192.

[7] Vgl. ebd. S. 192.

[8] Dani­el Kehl­mann: Licht­spiel. 2. Auf­la­ge. Ham­burg: Rowohlt 2023. Zitiert im Text unter der Sig­le L.

[9] Nora Bossong: Reichs­kanz­ler­platz. Ber­lin: Suhr­kamp 2024. Zitiert im Text unter der Sig­le R.

[10] »Über Geschich­te schrei­ben«: Dani­el Kehl­mann im Gespräch mit Nora Bossong. Poe­tik-Dozen­tur Tübin­gen 2024. 0:43:57–0:44:00.

[11] Ebd. 1:07:13–1:07:17.

[12] »Gat­tun­gen, Ton­fäl­le Stim­men«: Vor­le­sung von Dani­el Kehl­mann. Poe­tik-Dozen­tur Tübin­gen 2024. 0:44:27–0:44:31.

[13] Ebd. 1:01:05–1:01:06.

[14] Ebd. 0:57:57–0:58:10.

[15] »Über Geschich­te schrei­ben«: Dani­el Kehl­mann im Gespräch mit Nora Bossong. 1:01:12–1:01:24.

[16] Nora Bossong: Auch mor­gen. Poli­ti­sche Tex­te. Ber­lin: Suhr­kamp 2021. S. 15.