Jeder Gang in die örtliche Buchhandlung offenbart inzwischen den Einfluss des Hashtags BookTok auf den Buchhandel: Fast überall gibt es BookTok-Büchertische, die die Texte ausstellen, die auf BookTok häufig besprochen wurden. Das Börsenblatt des deutschen Buchhandels reagiert ebenfalls auf den digitalen Trend und veröffentlich monatlich als Eilmeldung die BookTok-Bestsellerliste. Viele Titel finden sich dann auch auf der Spiegel-Bestseller-Liste im Bereich Paperback wieder. Auch auf der Frankfurter Buchmesse spielt BookTok nicht nur durch die Verlage, die BookTok-Bücher vertreiben, sondern im Jahr 2024 auch mit einer eigenen Halle sowie den 2023 erstmalig verliehenen BookTok-Awards eine zunehmend wichtige Rolle.
BookTok hat bei der Gruppe der 16- bis 19-Jährigen eine nachhaltige Wirkung auf das Buchkaufverhalten gezeitigt: Die Kaufintensität ist laut einer Erhebung der Gesellschaft für Konsumforschung in dieser Gruppe zwischen 2017 und 2022 um 58,9 Prozent gestiegen. Wurden 2017 noch 7,5 Bücher im Schnitt jährlich von Menschen in dieser Zielgruppe gekauft, waren es 2022 bereits 12,0.1 Laut Nina Hugendubel, der Chefin des Münchner Buchhändlers, werden bei Hugendubel sogar 20% mehr Bücher in der entsprechenden Zielgruppe seit Beginn der Corona-Pandemie verkauft.2 Wie auch in anderen Ländern, in denen es hierzu bereits dezidiertere Analysen gibt (die deutsche Buchbranche schweigt stoisch zu konkreten Verkaufszahlen), liegt es nahe, diesen sprungartigen Anstieg mit dem #BookTok in Verbindung zu bringen.
BookTok-Accountgruppen
Bei Videos mit dem Hashtag Booktok handelt sich in der Regel um kürzere Videos bis ca. einer Minute, wobei folgende Rubriken dominieren: Kurze Buchvorstellungen und ‑rezensionen häufig nach Genres; Leselisten sowie das Präsentieren von SUBs; Vorstellungen eines Lesemonats; Buchhacks, also kreative Tipps und Tricks rund um das Lesen; Book-Shelf-Touren, häufig einhergehend mit dem Wunsch, das Bücherregal neu zu organisieren oder zu erweitern; Book-Cover-Reveals (wobei häufig auch die Farbschnitte visuell in Szene gesetzt werden), buchbezogene Challenges, Book-Hauls bzw. Buch-Unboxing und buchbezogene Augmented-Reality Filter zum Ranken von Büchern.
Es lassen sich aktuell innerhalb der deutschen TikTok-Accounts fünf BookTok-Accountgruppen differenzieren: (1) Eine Gruppe privater Accounts mit durchschnittlich 500‑5000 Follower:innen (in der Spitze auch bis zu 20.000) stellt literarische Texte – Klassiker und Gegenwartsliteratur – vor, die auch im Feuilleton sowie in Literaturpodcasts besprochen werden. Die Creator:innen dieser Accounts haben häufig einen universitären oder journalistischen Background und sprechen meist literaturwissenschaftlich informiert und elaboriert über die jeweiligen literarischen Themen (Beispiel: Tiktok von @evapramschuefer).
(2) Die privaten Accounts der zweiten Gruppe haben durchschnittlich weitaus höhere Followerzahlen und stellen Bücher vor, die in der Community selbst als BookTok-Bücher bezeichnet werden: Die hier am häufigsten besprochenen Genres sind aktuell Romance, Young Adult und Fantasy. (3) Seit 2024 sind einige Accounts entstanden, die versuchen, diese beiden Gruppen zusammenzuführen: Meist zeigt sich dies auch in Bezug auf die jeweiligen Gesichter der Accounts, die wie etwa @zeit und @literally arrivierte Literaturkritiker:innen mit jüngeren Creator:innen zusammenzuführen, die sich mit den für BookTok aktuell spezifischen Genres beschäftigen und die in einigen Posts auch in Dialog zueinander treten. Die BookTok-bezogenen Posts von @zeit folgen dabei zum großen Teil einem Muster: Der Literaturkritiker Volker Weidermann erhält Buchvorschläge aus der Community, wobei er die Texte in kürzeren Videos bespricht.
(4) Zu einer vierten Gruppe zähle ich Creator:innen aus den ersten beiden Gruppen, die nicht nur literaturkritischen Content posten, sondern die auch literarisch schreiben. Je nachdem, wie bekannt die Creator:innen jeweils als Autor:innen bereits sind, variiert auch die Zahl der Posts, die sie zu ihren eigenen Texten absetzen. (5) Zu einer fünften Gruppe rechne ich professionelle Accounts von Verlagen und Buchhandlungen, die Werbezwecken dienen. Die Accounts von Hugendubel oder Thalia etwa drehen BookToks in der Regel in einer Filiale, wobei ausgewählte Mitarbeiter:innen zu den ›Gesichtern‹ des Accounts werden. Die Accounts @literally als Projekt des Bayrischen Rundfunks und die BookToks von @zeit fallen damit natürlich sowohl in Gruppe 3 als auch 5.
Die Ästhetik der BookTok-Videos ist häufig TikTok-spezifisch: die Videos sind multimodal und integrieren verschiedene semiotische Ressourcen (Video, Musik, Geräusche, gesprochener und/oder geschriebener Text)3, sie sind zumeist vertikal gefilmt und werden auch vertikal auf dem Smartphone angesehen, die Creator:innen platzieren sich dabei in der Regel im Close-Up. Die TikTok-Ästhetik ist, wie Browyn Reddan beschreibt, als chaotisch und unstylisch zu bezeichnen und steht damit in Kontrast zur Hochglanzästhetik vieler Bookstagram-Posts.4 Dadurch wirken die Creator:innen nahbarer als auf Instagram, sie müssen zugleich aber auch mehr von sich persönlich preisgeben und mit witzigen Ideen auffallen, um die parasoziale Beziehung mit den Follower:innen aufzubauen bzw. zu festigen. Grundsätzlich kann bei TikTok jedes Video viral gehen, das ist die Besonderheit des Algorithmus auf der ›For You‹-Seite und das ist sicherlich ein Grund dafür, dass BookTok-Creator:innen sich eher an TikTok-Trends und virale Praktiken anpassen statt das persönliche Profil zu schärfen – wobei dies durchaus auch zu beobachten ist.
In der Regel sind BookTok-Videos mit Musik unterlegt und zeigen wiederkehrende Muster: Empfohlene Bücher werden oft zuerst mit einer Nahaufnahme auf die Schnittkante gefilmt, Audio-Memes und Text unterstützen dabei den sich aufbauenden Spannungseffekt bis zur Auflösung, in der das Buchcover gezeigt wird. Unter den 20 zurzeit am häufigsten gelikten Videos mit dem Hashtag Booktok finden sich etwa fünf Videos dieses Musters. Weiterhin werden in Videos mit dem Hashtag Booktok häufig buchbezogene Augmented-Reality-Filter genutzt, wobei die Creator:innen vorgegebene Fragen beantworten oder Bücher auf einer Skala nach bestimmten Themen ranken, allerdings werden die Themen oder Bücher in willkürlicher Reihenfolge eingeblendet, sodass die Creator:innen zunächst nicht wissen, ob sie im Rahmen der zur Verfügung stehenden Optionen die für sie sinnvollste Reihenfolge auswählen werden. Ich stelle jetzt im Folgenden in loser Folge BookTok-Phänomene vor, die mir zurzeit für im Besonderen deutschsprachige Videos unter dem #BookTok spezifisch.
BookTok und Wertung
Hier ist es zielführend, TikToks der beiden nicht professionellen Sub-Communities zu differenzieren. Auch wenn die TikTok-spezifischen Formate in beiden Gruppen zu finden sind (etwa buchbezogene Rankings, Filter, der Einsatz von Audio-Memes etc.), ist auffällig, dass Creator:innen, die Klassiker und im Feuilleton besprochene Literatur vorstellen, zu längeren Besprechungen der Texte tendieren und zudem ein größeres Spektrum an Wertmaßstäben, im Besonderen auch inhaltliche, formale und relationale an die vorgestellten Texte anlegen.
In den BookToks der zweiten Accountgruppe, in denen sogenannte BookTok-Bücher besprochen werden, dominieren hingegen gefühlsbezogene Reaktionen auf literarische Texte, was sich exemplarisch an einem 2024 viral gegangenen Trend, der sogenannte Silent Book-Review zeigen lässt (etwa in folgendem TikTok:
Nur mit Gesten und ggf. wenigen Geräuschen, manchmal unterlegt mit Musik, bringen die Creator:innen zum Ausdruck, wie sie die Bücher bewerten. Zumeist sind dies Bücher, die sie emotional auf unterschiedliche Art und Weise bewegt haben – das liegt zum einen sicher daran, dass Emotionen sich pantomimisch besser darstellen lassen. Das steht aber zudem auch in Zusammenhang mit zwei weiteren Aspekten: Videos, in denen sich Creator:innen im Anschluss an besonders emotionale Textpassagen weinend filmen, sind schon mehrfach viral gegangen. Der Wunsch, mit den eigenen buchbezogenen Videos größere User:innenkreise zu erreichen, könnte also zu mehr Videos dieses Muster führen. Zum anderen korreliert die recht große Zahl an Videos, in denen sich Creator:innen emotional bewegt filmen, mit den auf BookTok aktuell favorisierten Genres Romance und Young Adult, in denen Figuren diverse emotionale (Extrem-)Situationen durchleben. In den BookToks, in denen einzelne Texte oder Reihen genauer vorgestellt werden, fällt zudem auf, dass häufig individuell wirkungsbezogene Wertmaßstäbe angelegt und Bücher dann empfohlen werden, wenn sie affektive Wirkungen wie Rührung und Mitleid evozieren.5 Ein Blick auf die im BookTok-Jargon als Tropes bezeichneten, häufig besprochenen literarischen Themen und Motive in der zweiten BookTok Sub-Community lässt sich ebenfalls als Begründung dafür nutzen, dass individuell wirkungsbezogene wie auch hedonistische Werte in diesen BookToks einen hohen Stellenwert haben.
- Enemies to Lovers
- Grumpy x Sunshine
- Second Chance
- Slow Burn
- Age Gap
- Only one Bed
- Who did this to you
- Fake Dating
Jene Tropes – nicht zu verwechseln mit rhetorischen Tropen – spiegeln vor allem zentrale Elemente der histoire, im Besonderen handlungsfunktionale figurale Beziehungen, wobei es sich in der Regel um Liebesbeziehungen handelt. Dass Figuren füreinander bestimmt sind, sich von Feinden zu Freunden entwickeln etc. sind emotionsbezogene Plotentwicklungen. Für die einzelnen Untergenres wie Dark Romance, High Fantasy etc. könnte man sicher in Wladimir Propp’scher Manier strukturalistische Formeln entwickeln, die das Plotgrundmuster zusammenfassen und die ein Text des Genres jeweils nur innerhalb eines codierten Regelsystems variieren darf.
Diese Tendenz zu wiederkehrenden Mustern emotionsbezogener Handlungsentwicklungen erklärt, warum Texte in der zweiten BookTok-Accountgruppe auf der Basis von affektiv-wirkungsbezogenen und hedonistisch-wirkungsbezogenen Wertmaßstäben beurteilt werden, wobei gilt: Je mehr der Text die Gefühlsebene anspricht, umso positiver wird er bewertet. In den Kommentaren zu den BookTok-Videos aber auch zu Lese-Lives fragen die Nutzer:innen die BookToker:innen dieser Teilcommunity immer wieder gezielt nach Texten, die einzelne Tropes in einem Narrativ verbinden: Ein Wunsch nach Schemaliteratur ist hier deutlich zu erkennen und Varianz ist nur innerhalb der bekannten topischen Muster interessant. Innovation als relationaler Wert ist somit weniger wichtig als Variation. In Bezug auf formale Werte geht die Tendenz meist zu Eindeutigkeit, Geschlossenheit, Ganzheit und Einfachheit. Die zweite BookTok-Accountgruppe dokumentiert somit ein Lese- und Wertungsverhalten, dass vor TikTok als typisch für Leser:innen von Unterhaltungsliteratur galt, die wenig komplexe und wohlbekannte Handlungsverläufe mit einfachen Weltbildern bevorzugen.
Mit Fokus auf Fanfiction hat Erika Thomalla jedoch exemplarisch am Beispiel von Ravenhall, einer Harry-Potter-Fanfiction, nachgewiesen, dass zumeist Genre-Klassiker den architextuellen relationalen Rahmen der Bewertung bilden und die User:innen in ihren Kritiken deutlich machen, dass sie sich mit bloßen Kopien der von ihnen favorisierten Originale nicht zufriedengeben und die Anforderungen an das Verhältnis von Anlehnung und Abweichung zumeist durchaus differenziert sind. Entgegen der Annahme, auf BookTok werde im Wesentlichen unkritisch und positiv bewertet, lässt sich somit gerade für Fanfiction eine deutliche Tendenz zu kritischer(er) Beschäftigung mit den Texten feststellen.6
Lese-Live – Lesegeselligkeit 2.0
BookToker:innen gehen zumeist in den Abendstunden live und filmen sich dabei, wie sie lesen (auf dem Kindle oder in einem Buch). Mit der Community chatten sie dann in den Lesepausen. Meist ist noch Musik aus einer Tonquelle im Raum zu hören. Der Flüchtigkeit, Kürze und Schnelligkeit der konventionellen BookTok-Videos sowie der begrenzten Zeichenzahl in der Caption der Posts stellt die Funktion des Lives eine Möglichkeit entgegen, in Echtzeit im Chat mit den User:innen zu kommunizieren. In den längeren Lesephasen schreiben einzelne User:innen weiter im Chat miteinander, der:die Creator:in liest hingegen (aus urheberrechtlichen Gründen) lautlos und beantwortet in dieser Zeit keine Fragen.
Lese-Lives erfreuen sich einer beachtlichen Popularität, mitunter schauen bei bekannten deutschen BookToker:innen über 1000 User:innen im Live vorbei. Die Gründe für den Erfolg dieses Formats müssen noch genauer untersucht werden, ich habe dazu aber einige Thesen:
1) Die User:innen sehen im Live die Möglichkeit, in Austausch mit den Creator:innen zu kommen, die als Bookinfluencer:innen regelrechte Fangemeinden aufgebaut haben. Der Aspekt, dass die Booktoker:innen in den eigenen vier Wänden lesen, befriedigt den voyeuristischen Wunsch der User:innen, möglichst viel und nah am Alltag der Creator:innen teilhaben zu können;
2) das Lese-Live macht aus dem solipsistischen Moment des Lesens ein gemeinschaftliches Event, bei dem sich Creator:in und Follower:innen über buchbezogene Fragen austauschen; Leselives sind somit eine Art Lesegeselligkeit 2.0. Christoph Schmitt-Maß hat in Bezug auf Laienliteraturkritik im Internet im Jahr 2010 (und damit lange vor TikTok) den Vergleich zu diskursiven Praktiken des Salongesprächs der Frühromantiker:innen bemüht.7 In Bezug auf LeseLives auf TikTok treffen diese Analogien – mit einigen Abstrichen – spannenderweise im Besonderen zu: ungezwungene literaturkritische Gesprächskultur mit betonter Subjektivität, enthusiastische Meinungsbekundung, Fokus auf der Unterhaltsamkeit des Gesprächs.8 das Chatten im Leselive ermöglicht zudem ein Gespräch in Echtzeit und nicht wie auf Leseplattformen wie Goodreads oder via der Kommentarfunktion bei BookTube und Bookstagram mit zeitlicher Verzögerung. Anders als Christoph Schmitt-Maß nutze ich an dieser Stelle die Analogie zur frühromantischen Praktik des Salongesprächs jedoch nicht in negativer Konnotation, um Laienliteraturkritik gegenüber professionellen Formen der Literaturkritik abzuwerten. Stattdessen erhellt die Analogie aus meiner Sicht gewinnbringend Spezifika der Lese-Lives, denn wie die Salons der Frühromantik, die sich im Umkreis markanter Frauenfiguren entwickelten,9 werden die Lese-Lives zumeist von als weiblich gelesenen Creator:innen gehostet. Die literaturbezogenen Chats in den Lese-Lives sind zudem insofern enthierarchisiert, als im Wesentlichen – zumindest noch gegenwärtig – Unterhaltungsliteratur aus populären BookTok-Genres diskutiert wird und das Gespräch dabei bewusst ungezwungen und nicht systematisiert-wissenschaftlich ist. Weiterhin sind die Chats in den Lives zumeist Gespräche unter Sympathisant:innen: Die User:innen sind sich in der Regel darüber einig, dass die Texte, die in den Lives gelesen werden, aus ihrer Sicht lesenswert sind. Auf diese Weise entsteht, wie in den frühromantischen Lesekreisen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl über das synchrone Leseerlebnis.10 Anders als in frühromantischen Lesekreisen sind die Lese-Lives aktuell jedoch keine intellektuellen Diskursrunden. Deshalb ist vermutlich auch ein Vergleich mit der Lesepraxis vor 1750 gewinnbringend, in der das gesellige Lesen den Standard der Lesepraxis darstellte, da die meisten Menschen nicht lesen konnten und also auf das laute Vorlesen angewiesen waren. Das isolierte und stille Lesen ist schließlich erst eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts.
3) die Creator:innen sehen das Lese-Live als Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der User:innen, die nach Georg Francks Theorie der Aufmerksamkeitsökonomie als Ware betrachtet werden kann, viel länger als bei TikTok-Videos üblich zu binden und über das Live neue Follower:innen zu gewinnen. Mit Georg Franck ist Aufmerksamkeit ein Gut, um das gekämpft wird, um den Selbstwert zu erhöhen und konkrete monetäre Vorteile zu erhalten. Franck hatte in den 1990er Jahren, als sein Buch erschien, natürlich noch nicht soziale Medien im Blick, wenn er den Kampf um Aufmerksamkeit innerhalb von Massenmedien folgendermaßen beschreibt:
Die Medien selber [sind] nicht nur der Umschlagplatz für das Massengeschäft mit der Aufmerksamkeit, sondern zugleich die Börse, an der die persönlichen Kapitale bewertet werden. Umgekehrt geht es im Gerangel um einen Platz in den Medien, nie nur um den erklecklichen unmittelbaren Gewinn an Beachtung, sondern stets auch um die Pflege des Kurswertes der eigenen Aufmerksamkeit.11
In Francks Terminologie gesprochen kann der Kurswert der eigenen Aufmerksamkeit in der BookTok-Community durch die Lese-Lives deutlich gesteigert werden, denn die Follower:innen folgen dem Live (durchschnittlich) länger als sie ein normales BookTok-Video schauen. Das bietet einerseits die Möglichkeit direkten buch- oder nichtbuchbezogenenen Productplacements im Live. Weitaus häufiger spielt jedoch eine solche direkte Produktplatzierung in den Lese-Lives keine Rolle und der (vermutete) Effekt ist ein indirekter: Durch die Beziehungspflege zu den Nutzer:inen im Rahmen des Live-Chats verstärkt sich die Bindung an die Creator:in. Das wiederum trägt dazu bei, dass Nutzer:innen sich im Rahmen des Lives entscheiden, zu Follower:innen zu werden. Und das erhöht natürlich die Reichweite und macht die Creator:innen als Markenbotschafter:innen für Firmen interessanter. Aus Productplacements sowie aus Videos und Stories, in denen die Creator:innen die Vorstellung von Büchern oder anderen Konsumgütern direkt als Werbung markieren, ist zu schließen, dass diejenigen Creator:innen, die aktuell die follower:innenstärksten deutschsprachigen Accounts betreiben (zu diesen gehören die Accounts @itsjessamess, @tabeajoanna, @burcubloyd (von 200.–600.000 Follower:innen und 50–60 Millionen Likes)), ihren Lebensunterhalt – zumindest teilweise – mit ihrem BookTok-Account bzw. anderen buchbezogenen Social Media-Accounts bestreiten können. Diese kleine Gruppe an Bookfluencer:innen bietet auf ihren Accounts jeweils eine Mischung aus Einblicken in den eigenen Alltag, Productplacements und direkt als Werbung klassifizierten Posts und Buchbesprechungen. Dass die Creator:innen dieser Accounts eine eigene Fangemeinde besitzen, zeigt sich nicht nur in den Kommentaren unter TikToks sowie im Chat der Lives, sondern auch im Rahmen von öffentlichen Auftritten der Creator:innen, die etwa auf der Frankfurter Buchmesse sowie auf anderen Buchevents Signierstunden und Meet and Greets anbieten.
Selbstinszenierung der BookToker:innen
Für BookTok-Accounts, die eine spezifische Position im literarischen Feld einnehmen, scheint mir neben medienwissenschaftlichen Thesen auch literaturwissenschaftliche Forschung zu Formen der Autor:innnen-Inszenierung gewinnbringend zu sein (und das nicht nur für BookTok-Accounts, deren Creator:innen auch literarisch schreiben). Alexander F. Fischer weist darauf hin, dass »ein Autor in seinen (performativen) Selbstinszenierungen als Autor meist möglichst eine Pose einzunehmen sucht, die seinem Autor-Label« entspricht oder mit diesem korrespondiert. Posieren meint in diesem Zusammenhang »die habituell bedingte, distinktiv-markante Vermittlung, Verkörperung, Interpretation, Zurschaustellung oder Selbstzuschreibung eines spezifischen Verhaltens, einer spezifischen Haltung, Position, Figur, Gestalt bzw. Theater-Rolle im Rahmen sozialer Praktiken und kultureller Texte«.12 Das Konzept des Autor-Labels geht wiederum auf Dirk Niefanger zurück, der im Anschluss an Musik-Labels im Besonderen den Namen von Autor:innen als Label versteht, wobei dieses Label sowohl Texte des Autors/der Autorin als auch Image und Reputation zusammenhält, von den Autor:innen aber nur zu gewissem Grad selbst kreiert und beeinflusst werden kann, da die anderen Akteur:innen des literarischen Felds das Label auch fremdinszenieren.13
Die Selbstinszenierung von Autor:innen – und das lässt sich mit Blick auf TikTok auch auf Creator:innen im Allgemeinen übertragen – oszilliert zwischen den beiden Polen der Authentizität und Theatralität: Die Creator:innen möchten als ›authentisch‹ wahrgenommen werden und erwarten von den Follower:innen, dass sie nicht in den spezifischen Wahrnehmungsmodus einer theatralischen Situation wechseln – und/oder sie möchten bewusst als Kunst-Figur wahrgenommen werden und die Aufmerksamkeit der User:innen auf das Moment der theatralischen Inszenierung ihrer Autor- bzw. Creatorimago lenken. Erika Fischer-Lichtes Minimaldefinition von Theater ließe sich wie folgt abwandeln: »A (Creator:in als Person) repräsentiert in unterschiedlichem Grad X (Creator:in als digitales Label), während S (User:in) mit zeitlicher Latenz oder live zuschaut, wobei A entweder als A oder als X wahrgenommen werden möchte.«14 Mit dem so veränderten Leitsatz wird deutlich, dass A natürlich immer die Rolle als Creator:in übernimmt, dies jedoch unterschiedlich transparent machen möchte. Da speziell bei TikTok der Algorithmus einen so großen Einfluss auf die gezeigten Inhalte hat, kann die Selbstrepräsentation der Creator:innen auf dieser Plattform mit Bhandari und Bimo gar stets als »algorithmized self« bezeichnet werden.15
Da hier kein Raum für eine Mikroanalyse einzelner Posts ist, in denen oft sowohl die Bestrebung der Authentizitätssuggestion als auch der Persona-Ausgestaltung gleichermaßen zu unterschiedlichen Teilen zum Tragen kommt, behelfe ich mir mit einem Blick auf die von den Creator:innen vorgeschlagene ›Makrostruktur‹ des Accounts: Die Playlists der beiden follower:innenstärksten deutschsprachigen BookTok-Accounts @burcubloyd und @itsjessamess zeigen, wie die Creator:innen ihren eigenen Content in größere Rubriken einordnen. Daraus lässt sich wiederum zumindest tentativ ableiten, zu welchen Teilen sie den Account über die Zugehörigkeit zur BookTok-Community sowie über andere, das individuelle Creatorinnen-Label weiter ausdifferenzierende Posts wahrgenommen werden möchten. Die Creatorin des Accounts @itsjessamess hat ca. 500 dezidiert buchbezogene Posts in den Rubriken: ›Rezensionen‹, ›Book recs‹ und ›Bookhauls‹ angeordnet. Nur ca. 30 Posts sind in den Rubriken ›Rezepte‹ und ›hair and makeup‹ zusammengeführt. Die Creatorin des Accounts @burcubloyd hat hingegen in etwa so viele buchbezogene wie nicht-buchbezogene Posts, bei denen sie den User:innen Einblicke in ihren Alltag (Vlog) und ihre Outfitwahl (Neuer Tag Neues Outfit) gibt: Sie ist somit – auf Makroebene – deutlicher daran interessiert, nicht nur als BookToker:in, sondern auch als Privatperson wahrgenommen zu werden, die ihre User:innen an der Alltagsgestaltung jenseits des Lesens teilhaben lässt. Diese Strategie spiegelt sich in der Art der Werbekooperationen: @itsjessamess kooperiert hauptsächlich mit Verlagen und Unternehmen, die buchbezogene Artikel produzieren, @burcubloyd hingegen weitaus häufiger auch mit Unternehmen, die Kleidung und Beauty-Produkte produzieren.
Für Social Media im Allgemeinen gilt natürlich die Regel, dass die meisten Creator:innen größtmögliche ›Authentizität‹ suggerieren möchten, denn dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass Firmen sie als Influencer:innen anwerben. Zum »TikTok-Theater« gehört jedoch, wie es Martina Leeker treffend formuliert, essentiell immer auch ein »nicht-menschlicher Mitspieler, nämlich die technologischen Bedingungen der Plattform«, die aus algorithmischen Verfahrensweisen sowie Tools zur Stellung und Bearbeitung der TikToks zählen (Filter, Effekte, Schnitt, Untertitelung, Vertonung).16 Noch stärker als auf anderen Social-Media-Plattformen wie Instagram oder X lebt dieses TikTok-Theater vom Muster der Wiederholung, von der Memefication – wie Simon Meier-Vieracker Adaptationen und Variationen nennt, die am Potenzial des jeweiligen Memes mitarbeiten.17 Kurz zu dem von mir in diesem Zusammenhang favorisierten Meme-Begriff: Mit Limor Shifman definiere ich Internetmem wie folgt: »(a) a group of digital items sharing common characteristics of content, form, and/or stance, which (b) were created with awareness of each other, and © were circulated, imitated, and/or transformed via the Internet by many users.«18
Auf den ersten Blick stehen Prozesse der Memefication in Widerspruch zu Authentitzitätssuggestion, an einem konkreten Beispiel möchte ich jedoch abschließend zeigen, wie BookToker:innen trotz oder sogar wegen der Tendenz zur Memefication an der Gestaltung ihrer ›authentischen‹ BookToker:innenmarke arbeiten. Judith Ackermann, die als Professorin für Digitale Medien selbst einen Account für Wissenschaftskommunikation auf TikTok betreibt, hat auf Basis von Umfragen eruiert, mit welchen Aspekten das Ziel: »Feeding the Algorithm« auf TikTok am besten umgesetzt werden kann: Kontinuierliches Posten, Beteiligung an Trends und Hashtagchallenges, Generieren eigener Hashtags, ironische Überzeichnung/Humor, Personas/Fiktionalisierung, Interaktion mit anderen Creator:innen, Einbinden der Community bzw. partizipative Formate.19 Neben der steten Interaktion mit den Follower:innen, die auf BookTok-Accounts über Lese-Lives, Anworten auf Fragen in Posts, Kommentaren, DMs, über Likes, aber auch über Gewinnspiele und Meet & Greets stattfindet, müssen die Creator:innen den Algorithmus durch stetiges Posten füttern. Die drei größten BookTok-Accounts im deutschsprachigen Bereich @itsjessamess, @burcubloyd und @tabeajoanna setzen täglich zumeist mehrere Posts ab, wobei sich in ca. einem Viertel der Posts TikTok-spezifische Formen der Memefication nachweisen lassen. Im Besonderen die Creatorin des Accounts @tabeajoanna greift bei ihren Posts auf TikTok-Memes zurück und verbindet diese mit buchbezogenen Themen. Das in dem von mir ausgesuchten TikTok genutzte Audiomeme stammt aus der Comedy-Jugendserie ResidentAlien und wurde in den meisten TikTok-Videos so eingesetzt, wie die Creatorin des Accounts @tabeajoanna es macht.
Nach Simon Meier-Vieracker funktionieren TikTok-Videos nach diesem Muster als multimodale Metapher, source und target sind jeweils gleichzeitig in einem Video enthalten. In diesem Fall ist in der ersten Einstellung die source in der Tonspur die ungläubige Frage danach, wie Festung eingenommen werden konnte, und das target befindet sich im Textinsert (siehe Abb. 1). Hier fragt das Herz, wie es Literatur zu ihm geschafft hat. Das tertium comparationis zwischen Festung und Herz ist in diesem Fall die vermeintliche Uneinnehmbarkeit bzw. Unerreichbarkeit. In der zweiten Einstellung ist die source in der Audiospur die offene Tür, das target im Textinsert ein Hinweis auf eine Harry-Potter-Fanfiction. Das tertium comparationis ist so etwas wie das überraschend Besondere/Einfache.

Abb. 1: Transkript eines TikToks von @tabeajohanna
Diverse Posts von @tabeajoanna folgen diesem Muster von Audiomeme auf Tonspur, die mit Lipsync nachgespielt wird, und buchbezogener ›Umdeutung‹ im eingeblendeten Text. Memefication ist somit ein zentrales Element ihres Creator:innenlabels. Individuell und kreativ ist dabei die Umdeutung der Audio-Memes auf buchbezogene Fragen: Und das ist wiederum auch die Begründung dafür, dass Memefication sehr wohl dazu beitragen kann, das Creator:innenlabel auszugestalten und den Affordanzen der Plattform gemäß zu schärfen.
BookTok und Feminismus
BookTok gerät immer wieder auch in die Kritik, wenn etwa das Genre Dark Romance unter Verdacht steht, toxische Beziehungen und Situationen von Missbrauch sowie emotionaler Manipulation zu verharmlosen20, bzw. wenn Romane unter Genres subsumiert werden, die vermeintlich falsche Erwartungshaltungen wecken: So wie im Fall von Coleen Hoovers Roman It ends with us, der von der Covergestaltung einen Romance-Plot nahelegt, aber eine Geschichte häuslicher Gewalt erzählt.
Ich möchte mich zum Abschluss meiner Annäherung an BookTok deshalb mit der Frage beschäftigen, inwiefern BookTok das Potenzial innewohnt, eine Art feministische Gegenöffentlichkeit zu erzeugen – und was dem wiederum zugleich entgegensteht. Hierzu zunächst einmal erneut ein paar Zahlen: Wie Nicole Seifert in FrauenLiteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt (2021) darlegt, gibt es nach wie vor einen frappanten Gender Gap in der Literaturgeschichte wie auch im Literaturbetrieb.21 So lag der Anteil der Autoren in den Verlagsprogrammen 2021 bei zwei Dritteln, der von Autorinnen nur bei einem Drittel, das galt ebenso für Besprechungen im Feuilleton. Umso auffälliger sind deshalb Tendenzen auf BookTok: Hier dominieren weibliche Bookfluencerinnen, die in der Regel über Texte von Autorinnen diskutieren. Auch eine Auswertung der mit BookTok in Verbindung stehenden Hashtagerwähnungen zeigt, dass sich unter den 50 am häufigsten in der Caption von Posts erwähnten Autor:innennamen nur 5 Autoren, aber 45 Autorinnen befinden.22 Wenn man dabei berücksichtigt, dass allein durch Erwähnungen bei BookTok im Jahr 2024 in Deutschland laut Media Control über 25 Millionen Bücher verkauft worden sind und damit doppelt so viele als noch 2023,23 dann wird deutlich, dass BookTok auch einen Angriff auf den Gender Gap in der Buchbrache darstellt. Nicht nur die LeseLives im Speziellen, sondern auch BookTok im Allgemeinen kann aktuell – wie ich schon ausgeführt habe – als ein weiblich dominierter Lesesalon betrachtet werden, in dem im Besonderen BookTokerinnen Bücher von Autorinnen besprechen bzw. Autorinnen sich und ihre Texte vorstellen und bewerben. Diese sind, zumindest in der sehr populären ersten BookTok-Accoutgruppe, häufig Texte mit Liebesplots auf der Basis von immer wiederkehrenden Plotschemata. Das kann jetzt kulturpessimistisch als Niedergang literarisch komplexen und polyvalenten Erzählens gewertet werden. Man kann aber auch darüber nachdenken, inwiefern diese BookTok-›low culture‹ feministisch aufgeladen ist, indem sie (1) ein Gegenwissen zur männlich dominierten, im klassischen Feuilleton besprochenen Literatur etabliert. Hier müssen aus meiner Sicht literaturwissenschaftliche Analysen unter gender-kritischer Perspektive zeigen, inwiefern in einzelnen BookTok-Texten bzw. ‑Genres die weiblichen Figuren selbstbestimmt in selbst gewählten Rollen agieren und zugleich eigene Begehrlichkeiten entwickeln und ausleben – oder inwiefern sich ggf. doch nur Gender-Stereotypisierungen verfestigen. So wäre etwa mit Blick auf den umstrittenen Stalker- und Kidnapping-Trope zu fragen, ob das fiktional erzeugte Setting der Ent- und Verführung einer Frau durch einen Mann einen feministischen Trope darstellt, der der weiblichen Figur durch das Enthobensein von ihren gesellschaftlichen und familiären Zwängen ein selbstbestimmtes Ausleben ihrer sexuellen Phantasien ermöglicht – oder ob es sich um das Gegenteil von weiblicher Selbstermächtigung handelt, indem die weiblichen Figuren eine männliche Phantasie als ihre eigene maskieren.
Weiterhin kann (2) festgestellt werden, dass BookTok zunehmend auch zu einem Raum wird, in dem Texte vorgestellt werden, deren Figuren intersektionelle Erfahrungen machen müssen. Zu nennen sind hier #ownvoices-Titel wie Felix ever After oder The Black Flamingo. Einige Stimmen aus der BookTok-Community selbst weisen allerdings daraufhin, dass es sich bei BookTok gegenwärtig im Wesentlichen (noch) um eine nicht-diverse Community handelt: So sind die meisten Creatorinnen weiße, mittelalte Frauen, die Texte von weißen, mittelalten Autorinnen besprechen. Und deren Hauptfiguren sind in der Regel weiße, heterosexuelle Frauen. Im Jahr 2021 wurden etwa 92,2 % der Romance-Bücher von weißen Autor:innen und nur 7,8% von BIPoC Autor:innen geschrieben.24 Die offene Diskussion auf BookTok über Diversitätslücken etwa in den Texten von Sarah J. Maas und Coleen Hoover kann jedoch als eine aktive Auseinandersetzung mit diesem aktuell noch zu konstatierenden Defizit auf BookTok betrachtet werden.
Zudem findet auf BookTok (3) auch ein Bruch mit literarischen Kanones sowie eine De-Hierarchisierung und Diversifizierung statt, indem etwa Reels zu Texten von Colleen Hoover auf solche zu Sylvia Plath folgen. Weiterhin werden kanonisierte literarische Texte von der BookTok-Community wiederentdeckt, dann aber mit den eigenen Maßstäben bewertet. So sind derzeit Texte von Jane Austen und den Brontë-Schwestern sehr beliebt, weil sie der Community vertraute Tropes enthalten. Es findet also wie in einer Art Revolution von unten eine Neu-Bewertung und Neu-Konzeptionierung bekannter Kanones statt. Die vielbeschworene Aufhebung der Trennung von U- und E‑Literatur findet aus meiner Sicht jetzt somit tatsächlich statt – aber eben nicht im Feuilleton, sondern auf BookTok. Und schließlich kann (4) BookTok als neue Form affektiver Öffentlichkeit betrachtet werden. Sara Ahmed25 betont in The Cultural Politics of Emotion, dass Gefühle nie allein im isolierten Subjekt, sondern immer nur durch soziale Zirkulation entstehen und damit auch eine politische Dimension haben. Die Gefühle, die in den Reels zeigt werden und deren Spanne von Euphorie über weibliche Agency bis zur Frustration über toxische Männlichkeit reicht, lassen sich außerdem mit Zizi Paparacharissi als »affective public«26 beschreiben, als eine Gemeinschaft, die nicht nur durch Argumente, sondern vor allem auch über affektive Resonanz funktioniert.27 BookTok wird so zu einem Ort, an dem marginalisierte Gefühle sichtbar gemacht und potenziell auch kollektiv verarbeitet werden können.
Schlussbemerkung
Das Spezifikum von Social Reading auf BookTok ist die Möglichkeit zur direkten Interaktion und Kommunikation der Prosumer:innen (die eigene Inhalte produzieren und Inhalte anderer konsumieren) mit- und untereinander. Unter dem Hashtag BookTok upgeloadeter Content eröffnet damit neue Möglichkeiten der Selektion, aber auch der Partizipation und Multiplikation – schlicht und ergreifend auch deshalb, weil die Reichweite der Accounts zusammengenommen extrem groß ist. Schon seit Beginn des Buchdrucks wird letztlich die Selektion der zu lesenden Bücher im Grunde zu einem Problem – es erscheint mehr Literatur, als gelesen werden kann. Dieses Problem ist auf dem zeitgenössischen Buchmarkt quasi ins Unlösbare potenziert. Das erhöht natürlich den Selektionsdruck: Leser:innen müssen zwischen lohnender und weniger lohnend erscheinender Lektüre unterscheiden. Die Literaturkritik auf BookTok hilft vor diesem Hintergrund und unabhängig von den veränderten Wertmaßstäben, die ggf. in ihr zum Tragen kommen, den User:innen dabei, sich für die Lektüre von Büchern zu entscheiden. Diese Form der Entscheidungshilfe wird natürlich durch die Algorithmen der Plattform und durch die Bubbles, in denen sich die User:innen zwangsläufig aufhalten, deutlich gesteuert. BookTok als neue Form von Literaturkritik ist deshalb immer auch in Zusammenhang mit den Affordanzen der Plattform TikTok zu untersuchen. Häufig spielt die Informationsfunktion in BookToks deshalb im Vergleich zur Unterhaltungsfunktion eine untergeordnete Rolle, denn die Creator:innen des Contents sind als Prosumer:innen daran interessiert, Likes für den von ihnen selbst generierten Content zu erhalten und die eigene Reichweite zu erhöhen – das geht natürlich am besten mit Inhalten, die durch ihren Unterhaltungswert Aufmerksamkeit binden. Dass BookTok-Videos häufig nur wohlwollend über Texte sprechen, ist aktuell auch damit zu erklären, dass die Bookfluencer:innen den Follower:innen im Wesentlichen Empfehlungen aussprechen möchten, um sie weiter an den eigenen Account zu binden.
- Vgl. Florian Rinke: Wie Tiktok mit dem Phänomen #Booktok die Frankfurter Buchmesse verändert hat. In: https://omr.com/de/daily/tiktok-booktok-frankfurter-buchmesse, zuletzt eingesehen am 7.5.2025. ↩︎
- Vgl. Henning Jauernig: Schreien, wimmern, Bücher kaufen. Hype um BookTok. In: spiegel.online: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/booktok-tiktok-phaenomen-sorgt-fuer-unerwarteten-boom-im-buchhandel-a-e0ed8b94-edd3-40b3-82b6-fadb3a0f479b, zuletzt eingesehen am 7.5.2025. ↩︎
- Meier-Vieracker, Simon: Überschreibungen. Vortrag im Rahmen der Tagung Memefication und Performance an der TU Dresden. Digitale Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=YuoW2kRfRcU, Min. 2:43. ↩︎
- Reddan, Bronwyn: Social Reading Cultures on BookTube, Bookstagram, and Booktok. In: http://slav.vic.edu.au/index.php/Synergy/article/view/597/592, zuletzt eingesehen am 7.5.2025. ↩︎
- Vgl. zur hier genutzten Taxonomie der Wertung literarischer Texte: Renate Heydebrand von u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn: Schöningh 1998. ↩︎
- Erika Thomalla: »Bücher wie…« Fanliteratur von Buch-Influencern. In: LiLi 53 (2023). S. 695–710. S. 698 f. ↩︎
- Christoph Schmitt-Maaß: Gespräch oder Geschwätzigkeit? Salonkultur im WorldWideWeb – Internetliteraturkritik als Form der (Selbst-)Verständigung. Mit einem Seitenblick auf Friedrich Schleiermacher und Friedrich Schlegel. In: Sylvie Grimm-Hamen u. Françoise Willmann (Hrsg.): Die Kunst geht auch nach Brot. Wahrnehmung und Wertschätzung von Literatur. Berlin: Frank & Timme 2010. S. 89–105. ↩︎
- Vgl. Ina Bredel-Perpina u. Barbara Reidelshöfer: Literaturkritik heute: Videorezensionen im Literaturunterricht. In: MiDu 1 (2019) H. 1. S. 112–124. S. 113. ↩︎
- Schmitt-Maß: Gespräch oder Geschwätzigkeit? S. 98. ↩︎
- Schmitt-Maaß: Gespräch oder Geschwätzigkeit? S. 101 ↩︎
- Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München: Carl Hanser 1998. S. 151. ↩︎
- Vgl. Alexander M. Fischer: Posierende Poeten. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2015. S. 42. ↩︎
- Dirk Niefanger: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Johannes G. Pankau: Pop. Pop. Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Breme 2004. S. 85–101. ↩︎
- Bei Fischer-Lichte heißt es: »Theater, reduziert auf seine minimalen Voraussetzungen, bedarf also einer Person A, welche X präsentiert, während S zuschaut« (Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen: Narr 1983. S. 16). ↩︎
- Aparajita Bhandari u. Sara Bimo: Why’s Everyone on TikTok Now? The Algorithmized Self and the Future of Self-Making on Social Media. In: Social Media + Society. 8 (2022) H. https://doi.org/10.1177/20563051221086241, zuletzt eingesehen am 7.5.2025. ↩︎
- Martina Leeker: Performing TikTok. Anleitungen für „versierte Spieler“ im posthumanen Theater digitaler Kulturen. In: Kulturelle Bildung online. https://www.kubi-online.de/artikel/performing-tiktok-anleitungen-versierte-spieler-posthumanen-theater-digitaler-kulturen, zuletzt eingesehen am 23.6.2024. ↩︎
- Simon Meier-Vieracker: Überschreibungen. Vortrag im Rahmen der Tagung Memefication und Performance an der TU Dresden. Digitale Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=YuoW2kRfRcU; Min: 19:23. ↩︎
- Shifman, Limor: Memes in Digital Culture. Cambridge: MIT Press 2015. S. 41. ↩︎
- Judith Ackermann: Bildungsinfluencer:innen auf TikTok. Vortrag im Rahmen der Tagung Memefication und Performance. Digitale Aufzeichnung: https://www.youtube.com/watch?v=XAXt-CfbA6s&list=PLGlksHy9A8eRwwIha1mGqVYit0uiqZCIh, zuletzt eingesehen am 23.6.2024. Min: 37:10. Vgl. zu den Einschätzungen, durch welche Verfahren der TikTok-Algorithmus genutzt werden kann, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten: Christian Ehret u. Anita Hagh: Algorithmic Imaginings and Critical Digital Literacy on #BookTok. In: new media & society 2023. 1–18. ps://doi.org/10.1177/14614448231206466DOI: 10.1177/14614448231206466. ↩︎
- Leila Herrmann: Why I Won’t Quit BookTok. In: Vogue.online (9.4.2025). https://www.vogue.com/article/why-i-wont-quit-booktok. ↩︎
- Nicole Seifert:
FrauenLiteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021. ↩︎ - Sven Trautsein: Warum sind Autorinnen auf TikTok so gefragt? Eine Analyse des BookTok Rankings. In: https://www.merkur.de/leben/buchtipps/warum-sind-autorinnen-auf-tiktok-so-gefragt-eine-analyse-des-booktok-rankings-zr-93274193.html, zuletzt eingesehen am 11.6.2025. ↩︎
- https://newsroom.tiktok.com/de-DE/rekordjahr-fuer-booktok-ueber-25-millionen-verkaufte-buecher-in-2024 ↩︎
- https://www.chsperiscope.com/perspectives/2024/05/13/tok-about-disappointing-how-booktok-ruined-reading-editorial/ ↩︎
- Vgl. Sara Ahmed: The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh: Edingurgh University Press 2004. ↩︎
- Zizi Papacharissi: Affective Publics: Sentiment, Technology and Politics. Oxford: Oxford University Press 2015. ↩︎
- Sonali Kulkarni: Getting a Feel for BookTok: Unterstanding affect on TikTok’s bookish subculture. https://repository.tilburguniversity.edu/server/api/core/bitstreams/c379391a-af79-4316-a03d- ↩︎