100 Jahre nach Franz Kafkas Tod sind kaum Details über sein Leben unentdeckt geblieben. Stapel von Tagebüchern und Briefen sowie seine Werke geben Generationen von Leser:innen Aufschlüsse über sein Leben, und trotzdem bleibt Kafka ein Mysterium. Dies trägt zur andauernden Faszination nicht nur seiner Werke, sondern auch seiner Person bei, und es wird immer wieder versucht, sein Leben biografisch zu ergründen. Das aktuellste Beispiel ist die Kafka-Biografie von Reiner Stach und die auf dessen Grundlage entstandene Fernsehserie Kafka von Regisseur David Schalko, basierend auf dem Drehbuch von Schriftsteller Daniel Kehlmann.1 Aber was trieb die beiden an, diese Serie zu produzieren?
Die Serie besteht aus Puzzlestücken aus Werk, Tagebüchern und Briefen von Kafka, zusammengebaut von einem Erzähler, der mit aktuellem Blick auf die Geschehnisse schaut. Nicht Kafkas Schreiben selbst steht im Fokus, sondern sein alltägliches Leben. Kafka war Angestellter einer Arbeiter-Unfall-Versicherung, hatte Freundschaften und Beziehungen, die ihn und seine Werke beeinflussten. In der Serie werden genau diese Aspekte genutzt, um eine andere Seite der Persönlichkeit Franz Kafkas zu beleuchten. Sie zeigt aber auch die Grenzen, an die man stößt, wenn man eine historisch verbriefte Person biografisch darstellen möchte. Denn genau die Beziehungen sind es, die nicht nur Kafka prägten, sondern auch die Quellen bilden, die der Nachwelt hinterlassen wurden. Kehlmanns Gestaltung des Drehbuchs zur Kafka-Serie kann einen Einblick in die literarische und filmische Verarbeitung dieser Quellen und Beziehungen geben.2
Zwischen Literatur und Film: Das Drehbuch
Drehbücher sind ein Gegenstand, für den sich lange Zeit keine Disziplin zuständig fühlte. Weder in den Philologien noch in den Film- und Medienwissenschaften ist das Drehbuch ein gängiges Untersuchungsobjekt. Es gibt verschiedene Gründe für diese Entwicklung. Drehbücher galten lange nur als Mittel zum Zweck im Zuge der Filmproduktion. Erst in den letzten Jahren werden sie in der Forschung auch als literarische Texte gelesen, die gezielt Sprache einsetzen. Dabei darf man aber andererseits wiederum keineswegs die technische Funktion des Drehbuchs außenvorlassen. Es bedarf, wie Hentschel et al. es fordern, einer »transdisziplinär[en] Drehbuchforschung, in der verschiedene Perspektiven, zum Beispiel der Literatur‑, Film‑, Produktions- und Rezeptionswissenschaft vereint werden«.3 Man muss das Drehbuch als Text lesen und dabei seine Funktion bei der Umsetzung in ein audiovisuelles Format beachten. So ist das Drehbuch eine »intermediäre Entität«4, die einen »komplexen ›literarischen‹ Status«5 hat. Im Falle des Drehbuchs der Kafka-Serie sollte das berücksichtigt werden, insbesondere wenn man die Notwendigkeit der Sprache für das filmische Erzählen berücksichtigt.6 Das Argument, dass Drehbücher auch literarische Texte sind, ist in Anbetracht der Kafka-Serie besonders einleuchtend, denn Kehlmann ist schließlich ein bekannter Schriftsteller. Wie David Schalko selbst sagt, lässt sich das Drehbuch zur Kafka-Serie »wie Literatur [lesen]«.7 So nutzt Kehlmann etwa in der sprachlichen Gestaltung des Drehbuchs komplexe Erzählverfahren, um eine besondere Wirkung zu erzeugen.
Biografisches Erzählen
In der Serie, die man als Biopic bezeichnen kann, verschmelzen historische Fakten mit einer fiktionalen Erzählung.8 Die zunehmende Freiheit der Fiktionalisierung in der Biografik ist aber erst eine Entwicklung des letzten Jahrhunderts. Seit dem 20. Jahrhundert hat sich die Biografik von ihrem Ursprung, der Geschichtswissenschaft, entfernt.9 Biografisches Erzählen geht demnach über die bloße Darstellung von Fakten hinaus. Wie Klein sagt, werden »Wahrheiten nicht […] ge- sondern […] erfunden«.10 Das bringt auch Freiheiten in der Gestaltung mit sich. Es wird oft von der traditionell chronologischen Darstellung abgewichen und der inhaltliche Fokus liegt häufig auf dem »Konzept der ›Alltagsgeschichte‹«, die sich natürlich in den meisten Fällen nur schwer mit Fakten eindeutig rekonstruieren lässt.11
Genau das wird in der Kafka-Serie aufgegriffen.12 Es handelt sich um eine so genannte Miniserie, die aus 6 Folgen von jeweils ungefähr 45 Minuten besteht. Die Serie als audiovisuelles Format ermöglicht die Strukturierung einer längeren Erzählung, die in Folgen eingeteilt ist. Man könnte das Leben von Franz Kafka auch chronologisch erzählen, was jedoch hier nicht getan wird. Stattdessen ist die Serie in »Aspekt[e]«13 eingeteilt, wie Kehlmann und Schalko es nennen: Folge 1: Max, Folge 2: Felice, Folge 3: Familie, Folge 4: Bureau, Folge 5: Milena und Folge 6: Dora. Wie man anhand der Titel jeder Folge sieht, werden die Beziehungen, sowohl menschlicher als auch beruflicher Art, die Kafka in seinem Leben einging, genauer beleuchtet.
Aber welche Auswirkung hat dies auf die filmische Darstellung? In einer chronologischen Narration wird eine Geschichte von Szene zu Szene entwickelt. In der Kafka-Serie ist dies nicht gegeben, sie erzählt vielmehr fragmentarisch. Zum einen ist das sicherlich dem Format der Miniserie geschuldet, in der man das Leben von Franz Kafka freilich nicht ausführlicher darstellen kann. Dies ist aber auch nicht die Absicht von Kehlmann und Schalko. Betrachtet man die Grundlage der Serie, die Kafka-Biografie von Reiner Stach, fällt eine ähnliche, wenn auch umfassendere Herangehensweise auf, die sich auch auf die Erzählweise auswirkt. Denn Stach rekonstruiert Kafkas Leben, indem er zwar basierend auf den verfügbaren Quellen Deutungen wagt, diese aber durchaus als Mutmaßungen offenlegt. Beispielsweise schreibt er: »Ob die wechselseitigen Verliebtheiten jene Ferienstimmung lange überdauerten, ist zweifelhaft; ja, es ist nicht einmal belegt«.14 Öfters grenzt Stach offen Fakten und Fiktion in seiner Biografie voneinander ab. Dies haben Kehlmann und Schalko in der Serie nicht nur übernommen, sondern spitzen es sogar zu. Sie wählen verschiedene Erzählverfahren, um Aspekte aus Kafkas Leben darzustellen. Stach dagegen setzt ›nur‹ eine auktoriale Erzählinstanz ein, die seine Leser:innen durch die Biografie führt. In dem Drehbuch kann man die Wirkungsweise von verschiedenen Erzählverfahren gut nachvollziehen, und man sieht, wie Kehlmann historische Quellen literarisch zu Dialogen und Erzählweisen verarbeitet, die diese Spannung zwischen Fakten und Fiktion auch im Biopic erzeugen.
Der Erzähler als unsicherer Biograf
Gleich zu Beginn der Serie wird von einem Voiceover-Erzähler in die Umstände um Kafkas Leben eingeführt. Der Voiceover-Erzähler agiert als (leitende) Autorität in der Serie; er gleicht einem auktorialen Erzähler in der Literatur. Der Erzähler ist aber nicht nur eine Autorität, er positioniert sich in seiner Rhetorik auch in der Gegenwart des Publikums: »Das ist jetzt ein wenig… Aber ich sage es einfach. Also, Bordells waren alltäglich. Fast alle jungen Männer gingen dorthin. Und sehr viele arme junge Frauen mußten dort arbeiten, um nicht zu verhungern.« (Folge 1, Szene 126, 20:08).15 Dadurch begibt er sich auf Augenhöhe mit dem Publikum und suggeriert, dass das Wissen von Biografen begrenzt ist. Zudem macht er Fehler, spult zurück und gibt zu, »[d]ie beiden [Felice und Kafka] haben es selbst nie ganz verstanden, wie sollen also wir es verstehen!« (Folge 2, Szene 201, nicht verfilmt). Das ist ein ähnliches Vorgehen wie bei dem Erzähler in Stachs Kafka-Biografie, aber auch hier deutlich überspitzt. Dem, was in der Biografie als Mutmaßung markiert wird, entspricht in der Serie eine offengelegte Unsicherheit des Erzählers im Umgang mit den Geschehnissen. Die Ratlosigkeit, wie und wo man anfangen soll, thematisiert er an mehreren Stellen: »Nein, wir müssen anders anfangen. Man muß das erklären, die Sache mit Max. Mit seiner Rückgratverkrümmung. Damit muß man anfangen« (Folge 1, Szene 120, 14:52). Der Erzähler entpuppt sich also als eine Art Biograf, der die Schwierigkeiten der biografischen Arbeit dem Publikum in seiner Unsicherheit offenbart. Kehlmann und Schalko nutzen demnach den Erzähler, um die Spannung zwischen Fakten und Fiktion in der biografischen Rekonstruierung des Lebens von Kafka darzustellen. Die Leerstellen der Serie, seien es Wissenslücken im Leben Kafkas oder fehlende Quellen, dienen der kritischen Perspektive auf biografische Arbeit in der Serie. Man möchte akkurat erzählen, kommt aber nicht umhin, Mutmaßungen treffen zu müssen. Die Entscheidung, den Erzähler gewissermaßen als unsicher darzustellen, steht im scheinbaren Gegensatz zu der ausführlichen Recherche zu Kafkas Leben und Werk, die der Serie zugrunde liegt. Auch im Gespräch über die Faktizität in seinen Werken sagt Daniel Kehlmann, dass selbst bei umfangreicher Recherche nicht nur Fakten genutzt werden können, um eine kongruente Geschichte zu erzählen.16 Der Erzähler ist damit nicht gänzlich als unzuverlässig zu sehen, aber durchaus als unsicher. Seine Wahl eines unzuverlässigen Erzählers ist für die, die Kehlmanns Werke kennen, nicht überraschend. Auch in der Serie gestaltet er die Unsicherheit des Erzählers mit einem für seine Romane typischen Humor, häufig von Musik unterstrichen, um das Publikum keineswegs von der Serie abzuschrecken. Vielmehr fühlt man sich mit dem Erzähler verbunden; er erscheint menschlich.
Und dennoch verliert der Erzähler nicht ganz seine Autorität. Das ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er die übermenschliche Fähigkeit besitzt, Szenen anhalten und als ›Außenstehender‹ über die Figuren und Handlung sprechen zu können. Der Erzähler kann sogar mit Figuren in der Serie sprechen, genauer mit den Figuren, die im engen Verhältnis zu Kafka stehen. So spricht er beispielsweise in der ersten Folge (mit dem Titel Max) Max Brod an, und dieser antwortet (auch für den Erzähler) überraschenderweise. Damit zeigt sich ein weiteres Erzählverfahren: Die Figuren wenden sich mitunter direkt an Erzähler und Publikum.
Das Mitspracherecht der Figuren
Auch die Interaktion zwischen Erzähler und Figuren wird in der Serie genutzt, um die Spannung zwischen Fakten und Fiktion in einer biografischen Darstellung zu erzeugen. Am deutlichsten wird das in der ersten Folge (Max). Dort wird die Beziehung zwischen Franz Kafka und Max Brod behandelt, die für das biografische Verständnis von Kafkas Leben unentbehrlich ist. Der Erzähler benennt sogar den Tag, als Kafka und Brod sich das erste Mal treffen: »Kennengelernt hatten sie sich am 23. Oktober 1902. Wenn wir einen Tag bestimmen müßten, an dem sich die Literatur für immer änderte – dann wäre er das wohl« (Folge 1, Szene 119, 14:15). Max Brod ist wichtig, aber der Erzähler setzt immer wieder neu an, um die historischen Begebenheiten zu rekonstruieren, um die Notwendigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit den Quellen zu zeigen. Die Serie beginnt beispielsweise mit dem Gespräch der beiden an Kafkas Sterbebett: Brod soll die gesamten Schriften Kafkas vernichten. Er entscheidet sich dagegen, was nicht nur als Auslöser für die Serie dargestellt wird, sondern auch historisch der Grund dafür ist, dass Kafkas Schriften heute noch erhalten sind. Das heißt: Jede Biografie von Kafka muss sich mit Brod beschäftigen. Insbesondere Brods Kafka-Biografie enthält wesentliche Informationen, die sonst heute nicht verfügbar wären. Oder wie der Erzähler passend dazu sagt: »Und seither, ob es einem gefällt oder nicht, gibt es keinen Brod ohne Kafka und keinen Kafka ohne Brod« (Folge 1, Szene 124A, 17:42).
Wie kontrovers die Entscheidung Brods ist, wird in der ersten Folge durch die Nachahmung eines Interviews mit Max Brod dargestellt, in dem seine Motive für die Veröffentlichung und Kommentierung von Kafkas Werken hinterfragt werden. Die Figur des Interviewers fragt beispielsweise: »Warum waren sie immer dabei, weshalb stehen sie immer im Bild, warum gibt es keinen Kafka ohne Brod?« (Folge 1, Szene 139, 39:50). Die komplexe Erzählstruktur unterstützt die oben erwähnte kritische Auseinandersetzung mit Quellen, die Kehlmann und Schalko demonstrieren wollen. Denn selbst Max Brods Perspektive auf das Leben und Werk von Kafka ist subjektiv. Während diese kritische Perspektive in verschiedenen Zwischenschnitten dargestellt wird, ist es dem Publikum überlassen, über Brods Intentionen zu urteilen.
Die Art und Weise, wie in der ersten Folge die Bruchstücke zusammengeschnitten werden, spiegelt wider, dass historische Ereignisse aus verschiedenen Phasen und Bereichen oder Aspekten des Lebens im Nachhinein zu einer Geschichte zusammengesetzt werden. Dabei erscheint Geschichte zwar linear, aber wie man am Aufbau der Folge sieht, muss sie das nicht (zwangsläufig) sein. Biografisches Arbeiten heißt hier, historische Quellen durch fiktionale Anteile zu einer gut lesbaren Erzählung zusammenzufügen. In der Serie werden Figuren wie Max Brod zu Verknüpfungspunkten. Die Serie zeigt Kafka hauptsächlich durch seine Handlungen und Dialoge mit den anderen Figuren. Das Publikum hat keinen Blick in sein Innenleben wie bei anderen Figuren. Das reflektiert das Verhältnis zwischen Biograf:innen und den Subjekten ihrer Arbeit. Biograf:innen haben oft nur indirekt Zugang (über Quellen, Werke) zu den historischen Personen. Diese Distanz darzustellen ist Kehlmann und Schalko in der Serie besonders wichtig, um die Schwierigkeiten der biografischen Arbeit offen zu kommunizieren. Im Gegensatz zu Kafka hat Brod als Filmfigur keine Distanz zum Publikum. Wie bereits erwähnt, gibt es mehrere Momente in der Folge, in denen Brod den Erzähler und das Publikum direkt anspricht: einmal, während er mit Kafka durch Italien reist, und ein zweites Mal, als er dem Erzähler und Publikum gegenüber rechtfertigt, warum er seine Freundesgruppe als »Prager Kreis« bezeichnet.17 Diese Ansprachen durchbrechen die vierte Wand.18 Brod und andere Figuren gewinnen an ›Handlungsfreiheit‹, die der Kafka-Figur verwehrt bleibt.
Neben Max Brod sind auch andere Personen aus Kafkas engerem sozialen Umfeld ein »Aspekt« seines Lebens.19 Während Brod für die Überlieferung von Kafkas Tagebüchern und Werken verantwortlich ist, ermöglichen die Briefe anderer Personen weitere Einblicke. In Felice (Folge 2), Milena (Folge 5) und Dora (Folge 6) werden die Dialoge zwischen Kafka und diesen Figuren vor allem aus den überlieferten Briefen von Kafka dargestellt. In der fünften Folge beispielsweise wird die Beziehung zwischen Kafka und seiner Übersetzerin Milena Jesenská in einem Treffen in Wien – das es nachweislich gab – dargestellt. Die Antworten von Milena Jesenská sind nicht überliefert, ähnlich wie bei Felice Bauer. Jesenskás Schriften und spätere Briefe an Max Brod wurden für die Dialoge verwendet. So wirft Jesenská beispielsweise Kafka vor, dass er nicht bereit gewesen sei, sich mit einer Ausrede von der Arbeit zu absentieren, um sie zu besuchen: »[N]ie könntest du gewinnen, das trägst du vor dir her, und alle helfen wir dir – […] auch deine Vorgesetzten, die du ja nie belügen würdest nur wegen einer Frau« (Folge 5, Szene 518, 36:15).20 Außerdem äußert sich Milena in ihrem Dialog mit Kafka, anstatt nur Zuhörerin zu sein, wie man es in Folge 2 bei Felice Bauer sieht, die Kafka hauptsächlich beim Vorlesen seiner Briefe zuhört. Dass Felices Briefe an Kafka nicht überliefert sind, wird durch das passive Zuhören signalisiert. Sie beschwert sich allerdings direkt beim Erzähler laut Drehbuch wie folgt:
ERZÄHLER (V.O.)
Hör ihm zu.
FELICE
Ich will ihm aber nicht mehr zuhören! Ich will ihm endlich nicht mehr zuhören müssen!
(Folge 2, Szene 243, 43:52)
Auch Dora Diamant (Folge 6: Dora) kann mit dem Erzähler interagieren. Milena hingegen wendet sich nicht an den Erzähler. Die mit ihr befasste Folge 5 (Milena) ist damit die einzige Folge der Serie, in welcher der Erzähler nicht vorkommt. Daraus lässt sich schließen, dass die Quellenlage den Handlungsspielraum der Figuren und die Erzählweise bedingt. In der Kafka-Forschung werden Felice und Milena sehr passiv dargestellt. Das wird durch die Figuren Felice und Milena in den ihnen gewidmeten Folgen in Frage gestellt. Kehlmann und Schalko lassen Felice dem Erzähler widersprechen und Milena durch ihre Briefe und Schriften sprechen. Damit stellt die Serie sich gegen die allgemeine Auffassung, dass die Frauen in Kafkas Leben nur passive Rezipientinnen seiner Briefe waren. Diese Ansicht entsteht dadurch, dass nur seine Briefe veröffentlicht wurden, ihre Briefe an ihn aber verloren gegangen sind.21
Kafkas Werke als Selbstcharakterisierung
Schließlich werden auch Auszüge aus Kafkas Werken für die Erzählung seines Lebens herangezogen. Die Werke sind der offensichtlichste Beweis für die Verknüpfung von Quellen mit Erzählverfahren und erscheinen als Zwischenschnitte in der biografischen Darstellung, bei der Kafka zum Protagonisten seiner eigenen Werke wird. Das folgt einer autobiografischen Interpretation von Kafkas Werken, die laut Kehlmann und Schalko die Inspirationsquellen Kafkas für das Publikum nachvollziehbar machen soll.22 So zieht sich die Entstehung von Kafkas Werken als roter Faden durch die gesamte Serie. Sie werden zu erzählenden Elementen, die Kafka vor allem als Schriftsteller charakterisieren. Zum Beispiel wird Kafka in der ersten und fünften Folge von zwei Männern verfolgt, die in mehreren seiner Werke (und damit mehrfach von den gleichen Darstellern in der Serie gespielt) vorkommen. Kafkas panische Angst vor den beiden Männern soll die Paranoia zeigen, die Kafka in seinem Alltag erlebte, denn die Inspektoren tauchen nur in seiner Freizeit auf. Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen. Zum einen zeigt sich, dass Kafka seine Umgebung immer mit einem literarischen Blick betrachtet und Inspiration in seinem Alltag findet. Zum anderen deutet es darauf hin, dass Kafka sich in seinen sozialen Beziehungen nie ganz wohlfühlte.23 Während seines Spaziergangs mit Milena wird Kafka auf die Männer aufmerksam und vor allem nachdem er sich weigert, mit Milena zu schlafen: »Die halbe Stunde im Bett. Oder im Gras. Das ganze schmutzige…« (Folge 5, Szene 514, 24:52). Damit werden die beiden Männer im Drehbuch zum Symbol dafür, dass Kafka sich in seinen intimen Beziehungen unwohl fühlt.
In dem Drehbuch werden angsteinflößende Figuren in seinen Werken häufig als Symbole für seine Schwierigkeiten in sozialen Situationen gedeutet. So steht beispielsweise als Regieanweisung:
An einer Hauswand stehen zwei Männer in Ledermänteln und sehen ihn an. Etwas an ihrem Anblick verunsichert ihn, er geht langsamer, blickt gebannt in ihre Richtung. Auf einmal hat sich die Stimmung geändert, sie ist nicht mehr heiter, etwas Unheilvolles liegt in der Luft (Folge 1, Szene 111).
Dies wird auch in anderen Folgen gezeigt, in denen die Kafka-Figur sich in ein Ungeziefer verwandelt (wie in Die Verwandlung) oder als Georg Bendemann (aus der Erzählung Das Urteil) von der Brücke stürzt (beides in Folge 3: Familie). Die Verstrickung zwischen Kafka und seinen Werken kulminiert dann in der letzten Folge, indem Abschnitte aus Das Schloss dargestellt werden. Dabei tritt der Darsteller von Kafka immer wieder als der Landvermesser K. auf, der sich auf den Weg ins Schloss macht. Kafkas Tod bedeutet in der Serie, dass der Landvermesser K. ebenfalls stirbt, bevor er das Schloss erreichen kann. Da der Roman nie zu Ende geschrieben wurde, erfand Kehlmann für die Serie einen fiktiven Schluss, um die Kongruenz von Kafkas Leben mit seinen Werken auch am Ende der Serie herzustellen. Diese Deutung ist autobiografisch und wird noch verstärkt, indem die Darsteller:innen der Personen in Kafkas engerem sozialen Umfeld (Max Brod, Milena Jesenská usw.) auch die Dorfbewohner:innen in den Szenen des Romans spielen. Die Dorfbewohner:innen schauen dabei zu, wie K. stirbt, so wie Kafkas enge Freunde die Kafka-Figur vor seinem Tod besuchen.
Es gibt aber auch eine Folge, in der keines von Kafkas Werken vorkommt, nämlich Folge 4: Bureau. In dieser Folge wird Kafkas Arbeit als Beamter der Arbeiter- Unfallversicherung behandelt. Hier sollen Kafkas herausragende Fähigkeiten bei der Arbeit gezeigt werden. Kehlmann und Schalko wollen damit der gängigen, teilweise aus seinen Werken abgeleiteten Behauptung widersprechen, dass sich Kafkas zwischenmenschliche Schwierigkeiten auch auf sein Arbeitsleben übertragen.24 Deshalb ergibt es Sinn, dass in dieser Folge keine Werke dargestellt werden. Trotzdem hat die Arbeit in der Versicherung auch seine Werke beeinflusst. So sagt in der Serie beispielsweise Rainer Maria Rilke nach Kafkas Lesung aus In der Strafkolonie (Folge 2: Felice), als er von Kafkas Beruf erfährt: »Nach dem heutigen Abend kann ich nicht behaupten, daß ich mich darüber verwundere« (Folge 2, Szene 248, 42:30). Rilke vermutet, dass Kafkas Arbeit für die Aussichtslosigkeit und die Grausamkeiten in seinen Werken verantwortlich ist. In den anderen Folgen, in denen Kafkas Werke erwähnt werden, suggeriert die Serie, dass er durch das Schreiben auch seine psychischen Probleme verarbeitete.
Kafkas Leben als filmische Annäherung
Die Besonderheit dieser Serie ist der Voiceover-Erzähler, der Personen aus Kafkas engerem sozialen Umfeld und seine Werke instrumentalisiert, um verschiedene Aspekte aus Kafkas Leben darzustellen. Der Erzähler selektiert, bearbeitet und ordnet die historischen Quellen, um daraus eine stimmige Geschichte zu formen. Dabei werden die Herausforderungen, welche die oft nur fragmentarischen Schriften Franz Kafkas bereiten, offen angesprochen. Der Erzähler bemüht sich um eine möglichst realistische Darstellung, wobei der Ablauf der Handlung nicht immer chronologisch ist. Ein verständiges Publikum erkennt, dass die historischen Quellen für die Dialoge in der Serie genutzt wurden. Gleichzeitig müssen Lücken und Leerstellen der Überlieferung mit Fiktionen gefüllt werden. Das wird vor allem durch den Widerspruch der Figuren gegenüber dem Erzähler deutlich gemacht. Die oftmals unscharfe Grenze zwischen Fakten und Fiktion zeigt sich als Hürde und zugleich als Möglichkeit der biografischen Arbeit. Während man meinen könnte, dass dies bei den Zuschauer:innen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Darstellung hervorrufen würde, tritt genau der gegenteilige Effekt ein. Erst wenn die Leerstellen imaginativ gefüllt sind, erweist sich die Erzählung als stimmig. Dass Kafkas Leben sicherlich nicht genau so gewesen ist, wie es uns die Serie zeigt, ahnt man natürlich, aber dennoch ist sie ein Versuch der Annäherung an seinen Charakter und sein Leben.
Zitierte Quellen
Brod, Max: Der Prager Kreis. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Göttingen: Wallstein 2016.
Brod, Max: Über Franz Kafka. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1966.
Custen, George F.: BIO/PICS. How Hollywood Constructed Public History. New Brunswick (NJ): Rutgers University Press 1992.
Henschen, Jan, Florian Krauß, Alexandra Ksenofontova und Claus Tieber: Einleitung. In: (Dies.) (Hrsg.): Drehbuchforschung. Perspektiven auf Texte und Prozesse. Wiesbaden: Springer VS 2022. S. 1–24.
Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. 5. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 2012.
Kafka (A/D 2024). Fernsehserie: 1 Staffel mit 6 Folgen, Folgenlänge: 42–48 Min. Regie: David Schalko. Drehbuch: Daniel Kehlmann in Zusammenarbeit mit David Schalko. Produktion: David Schalko, John Lueftner. Musik: Kyrre Kvam. Kamera: Martin Gschlacht. Cast: Joel Basman (Frank Kafka), David Kross (Max Brod), Nicholas Ofczarek (Hermann Kafka), Liv Lisa Fries (Milena Jesenská). Premiere: 20. März 2024 auf ARD Mediathek.
Klein, Christian: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Christian Klein (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2022. S. 1–22.
Krauß, Florian: Positionen und Diserate der Drehbuchforschung. In: MEDIENwissenschaft 40 2023. H. 1. S. 8–23.
Maras, Steven: Screenwriting: History, Theory, and Practice. London und New York: Wallflower Press 2009.
Poetik-Dozentur Tübingen. 2024a. Daniel Kehlmann im Gespräch mit David Schalko: “Kafka und wir”. https://www.youtube.com/watch?v=v7DlKTLIOl0&list=PLsZhiMXtMWI7QZKBAkGXru4rk1yzDrdJx. Letzter Zugriff: 20. Mai 2025.
Poetik-Dozentur Tübingen. 2024b. Daniel Kehlmann im Gespräch mit Nora Bossong: »Über Geschichte schreiben«. https://www.youtube.com/watch?v=srkjzOXw2Qw&t=2568s. Letzter Zugriff: 21. Mai 2025.
Stach, Reiner: Kafka. Die frühen Jahre. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2014.
- Ich bedanke mich bei Daniel Kehlmann und David Schalko dafür, dass sie mir das Drehbuch für diesen Essay zur Verfügung gestellt haben. Da dieses unpaginiert ist, zitiere ich daraus unter Angabe der Szene sowie der Zeitangabe in der Serie. ↩︎
- Für die inhaltliche und redaktionelle Beratung und zahlreiche Hinweise im Prozess der Überarbeitung bedanke ich mich bei Prof. Dr. Evi Zemanek und den Mitgliedern des Kurses »Poetiken der Gegenwart« (Wintersemester 2024/25, Deutsches Seminar, Universität Tübingen). ↩︎
- Jan Henschen, Florian Krauß, Alexandra Ksenofontova und Claus Tieber: Einleitung. In: (Dies.) (Hrsg.): Drehbuchforschung. Perspektiven auf Texte und Prozesse. Wiesbaden: Springer VS 2022. S. 1–24. S. 4. Vgl. auch Florian Krauß: Positionen und Diserate der Drehbuchforschung. In: MEDIENwissenschaft 40 2023. H. 1. S. 8–23. S. 9. ↩︎
- Steven Maras: Screenwriting: History, Theory, and Practice. London und New York: Wallflower Press 2009. S. 6. ↩︎
- Ebd. S. 45. ↩︎
- Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. 5. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 2012. S. 99. ↩︎
- Poetik-Dozentur Tübingen. 2024a. Daniel Kehlmann im Gespräch mit David Schalko: “Kafka und wir”. https://www.youtube.com/watch?v=v7DlKTLIOl0&list=PLsZhiMXtMWI7QZKBAkGXru4rk1yzDrdJx. Letzter Zugriff: 20. Mai 2025. 0:07:25 ↩︎
- Zum Begriff Biopic für eine verfilmte Biografie vgl. u. a. George F. Custen: BIO/PICS. How Hollywood Constructed Public History. New Brunswick (NJ): Rutgers University Press 1992. S. 5. ↩︎
- Vgl. Christian Klein: Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Christian Klein (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2022. S. 1–22. S. 11–12. ↩︎
- Ebd. S. 11. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Kafka (A/D 2024). Fernsehserie: 1 Staffel mit 6 Folgen, Folgenlänge: 42–48 Min. Regie: David Schalko. Drehbuch: Daniel Kehlmann in Zusammenarbeit mit David Schalko. Produktion: David Schalko, John Lueftner. Musik: Kyrre Kvam. Kamera: Martin Gschlacht. Cast: Joel Basman (Frank Kafka), David Kross (Max Brod), Nicholas Ofczarek (Hermann Kafka), Liv Lisa Fries (Milena Jesenská). Premiere: 20. März 2024 auf ARD Mediathek. ↩︎
- Poetik-Dozentur Tübingen. 2024a. 0:08:45. ↩︎
- Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2014. S. 268. ↩︎
- Im Folgenden werden die jeweiligen Folgen der Serie mit Folgennummer, Szenennummer aus dem Drehbuch und, falls verfilmt, mit Timecode (Minute: Sekunde) angegeben. ↩︎
- Vgl. Poetik-Dozentur Tübingen. 2024b. Daniel Kehlmann im Gespräch mit Nora Bossong: »Über Geschichte schreiben«. https://www.youtube.com/watch?v=srkjzOXw2Qw&t=2568s. Letzter Zugriff: 21. Mai 2025. 0:40:38. ↩︎
- Siehe Max Brod: Der Prager Kreis. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Göttingen: Wallstein 2016. ↩︎
- Die vierte Wand zu durchbrechen, ist eine ursprünglich aus dem Theater bekannte Technik, bei der Figuren die Illusion einer geschlossenen Bühnenhandlung zerstören, z. B. indem sie das Publikum direkt ansprechen. ↩︎
- Poetik-Dozentur 2024a. 0:08:45 ↩︎
- In dem Brief von Milena Jesenská an Max Brod heißt es: »[Er] ist aber nicht gekommen. Warum? Er hat nicht um Urlaub ersuchen können. Er hat doch dem Direktor, demselben Direktor, den er aus tiefster Seele bewundert (ernstlich!) […] er hat ihm doch nicht sagen können, daß er zu mir fährt. Und etwas anderes sagen – wieder ein entsetzter Brief – wie denn? Lügen? Dem Direktor eine Lüge sagen? Unmöglich« (Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1966. S. 199). ↩︎
- Beispiele dafür sind »Briefe an Felice und andere Korrespondenzen aus der Verlobungszeit« (Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born. 12. Auflage. Frankfurt am Main 1976) oder »Briefe an Milena« (Hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt am Main 1986). ↩︎
- Poetik-Dozentur 2024a. 0:35:59. ↩︎
- Eine Interpretation, die sicherlich aus der Kafka-Biografie von Reiner Stach stammt, wenn er beispielsweise schreibt: »Auch der befremdliche Gegensatz zwischen Kafkas Sicherheitsstreben und seiner Unfähigkeit zu langfristiger Planung geht vermutlich zurück auf einen irreparablen Mangel an Weltvertrauen.« (Stach: Kafka. S. 82) ↩︎
- Vgl. Poetik-Dozentur 2024a. 0:29:05. ↩︎
